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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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schlecht geschlafen, sah sie mit geduldigem Verständnis an.
    »Meinen Sie, seine Gefühle seien verletzt worden, Ma'am, oder sprechen Sie von körperlichen Verletzungen?«
    »Von beidem, Mylord. Aber wenn ich hier nicht sagen darf, was ich instinktiv erraten habe und was ich weiß, weil ich meinen Mann kannte, sondern nur, was ich wirklich beweisen kann, dann will ich nur sagen, daß er körperliche Verletzungen davongetragen hat. Es waren Prellungen, Hautabschürfungen und mehr als einmal oberflächliche Stichwunden, die von Messern oder ähnlichen Gegenständen herrührten.«
    Rathbone hätte es nicht besser planen können. Jetzt gab es keinen Mann und keine Frau mehr im ganzen Gerichtssaal, deren Aufmerksamkeit nicht geweckt worden wäre. Sämtliche Geschworene saßen kerzengerade auf ihren Plätzen und sahen zum Zeugenstand hinüber. Das kummervolle Gesicht des Richters war streng. In der Menge sah Rathbone Hester Latterly, die neben Lady Ravensbrook saß; letztere war aschfahl und sah aus, als sei sie in den letzten fünf oder sechs Wochen um zehn Jahre gealtert.
    Monk hatte ihm erzählt, daß sie an Typhus erkrankt war. Die Krankheit hatte eindeutig ihren Tribut gefordert. Aber selbst in diesem geschwächten Zustand war sie immer noch eine bemerkenswerte Frau, und nichts konnte die Einzigartigkeit ihres Charakters verändern.
    Ebenezer Goode biß sich auf die Lippen und rollte ganz leicht mit den Augen.
    Caleb Stone stieß ein kurzes bellendes Lachen aus, und die Wachen, die zu beiden Seiten neben ihm standen, rückten ein wenig näher an ihn heran; der Abscheu stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
    Der Richter blickte zu Rathbone hinüber.
    »Haben wir richtig verstanden, Mrs. Stonefield«, griff Rathbone den Faden wieder auf, »daß Ihr Mann von diesen Besuchen bei seinem Bruder mit Verletzungen zurückkehrte, die manchmal ziemlich ernst und schmerzhaft waren - und daß er trotzdem immer wieder zu ihm gefahren ist?«
    »Ja«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
    »Welche Erklärung hat er Ihnen für sein ungewöhnliches Verhalten gegeben?« wollte Rathbone wissen.
    »Daß Caleb sein Bruder war«, antwortete sie, »und daß er ihn nicht im Stich lassen könne. Caleb hatte sonst niemanden. Sie waren Zwillinge, und das Band zwischen ihnen durfte nicht zerrissen werden, auch nicht von Calebs Haß und seiner Eifersucht.«
    Auf der Anklagebank hielt Caleb mit seinen gefesselten Händen, die kräftig und schlank waren, das Geländer umklammert, bis seine Knöchel weiß geworden waren.
    Rathbone betete darum, daß sie sich ganz genau daran erinnern würde, was sie abgesprochen hatten. Bisher war die Befragung perfekt gelaufen.
    »Hatten Sie keine Angst, daß seine Verletzungen eines Tages ernsterer Natur sein könnten?« fragte er. »Daß er vielleicht zum Krüppel gemacht werden könnte?«
    Ihr Gesicht war bleich und angespannt, und nach wie vor starrte sie unverwandt vor sich hin.
    »Ja - ich hatte furchtbare Angst davor. Ich hab' ihn angefleht, nicht wieder hinzugehen.«
    »Aber Ihre Bitte konnte seine Meinung nicht ändern?«
    »Nein. Er sagte, er könne Caleb nicht fallenlassen.« Sie ignorierte Calebs Schnauben, aus dem Verachtung und beinahe so etwas wie Qual sprachen. »Er mußte immer an den Jungen denken, der er gewesen war«, sagte sie erstickt. »Und an all das, was sie als Kinder geteilt hatten, den Kummer um den Tod ihrer Eltern…« Sie blinzelte mehrmals, und die Mühe, die es sie kostete, nicht die Beherrschung zu verlieren, war offensichtlich.
    Rathbone widerstand der Versuchung, die Geschworenen anzusehen, aber er konnte beinahe spüren, wie ihr Mitleid sich einer warmen Woge gleich über den Raum legte.
    In der Menge erblickte er Enid Ravensbrooks ausgezehrtes Gesicht, das vor Mitleid für den Kummer, den sie so gut nachempfinden konnte, weich geworden war. Es verriet eine solche Tiefe des Mitgefühls, daß Rathbone nicht umhinkonnte, flüchtig darüber nachzudenken, ob vielleicht auch sie als Kind solche Einsamkeit erfahren hatte.
    »Ja?« drängte er Genevieve sanft zum Weitersprechen.
    »Ihr Gefühl absoluter Einsamkeit«, fuhr sie fort. »Und die Träume und Ängste, die sie geteilt haben. Wenn sie krank waren oder sich fürchteten, wandten sie sich immer einander zu. Es war niemand sonst da, dem sie am Herzen gelegen hätten. Das konnte er nicht vergessen, ganz gleich, was Caleb ihm jetzt auch antun mochte. Er war sich immer der Tatsache bewußt, daß das Leben gut zu ihm gewesen war und daß

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