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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Calebs Schicksal sich als weniger glücklich erwiesen hatte.«
    Auf der Anklagebank stieß Caleb einen Laut aus, der halb Stöhnen, halb Knurren war. Einer der Gefängniswärter legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Der andere grinste höhnisch.
    »Hat er das gesagt, Mrs. Stonefield?« hakte Rathbone nach.
    »Hat er diese Worte benutzt, oder ist das eine Vermutung von Ihnen?«
    »Nein, er hat genau diese Worte benutzt, und das mehr als einmal.« Ihre Stimme klang jetzt klar und entschlossen. Es war eine Feststellung.
    »Sie hatten Angst, daß Caleb Ihren Mann ernsthaft verletzen könnte, aus Neid auf seinen Erfolg und aus Haß?« fragte Rathbone.
    »Ja.«
    Ein leises Raunen ging durch den Raum, eine spürbare Bewegung. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, und im fahleren Licht wirkte das Holz des Saales grauer.
    »Hatte er kein Verständnis für Ihre Gefühle?« fragte Rathbone weiter.
    »O doch«, antwortete sie. »Er empfand genauso. Er hatte Angst, aber Angus war ein Mann, dem Pflicht und Ehre über alles gingen, selbst über sein eigenes Leben. Es war eine Frage der Loyalität. Er sagte, er sei Caleb für die Vergangenheit etwas schuldig, und er könne nicht damit leben, wenn er jetzt weglaufen würde.«
    Einer der Geschworenen nickte zustimmend. Er blickte mit Verachtung zum Angeklagten hinüber.
    »Worin bestand diese Schuld, Mrs. Stonefield?« wollte Rathbone wissen. »Hat er etwas dazu gesagt?«
    »Es ging wohl nur darum, daß Caleb ihn, als sie noch Kinder waren, gelegentlich in Schutz genommen hat«, antwortete sie.
    »Er hat nichts Genaueres darüber gesagt, aber ich glaube, er hat ihn gegen ältere Jungen verteidigt, die ihn aufzogen und schikanierten. Er hat auch davon gesprochen, daß ein Junge dabeigewesen sei, der besonders brutal war, und daß Caleb immer derjenige gewesen sei, der sich schützend vor ihn gestellt habe.« Plötzlich liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Das hat Angus nie vergessen.«
    »Ich verstehe«, sagte Rathbone sanft und mit einem kleinen v? Lächeln. »Das ist ein Ehrgefühl, von dem ich glaube, daß wir alle es verstehen und bewundern.« Er gab den Geschworenen ein oder zwei Sekunden Zeit, um sich seine Worte einzuprägen. Wie schon zuvor, sah er sie auch jetzt nicht an. Das wäre viel zu plump gewesen. »Aber Sie glauben, daß er trotzdem Angst hatte«, fuhr er fort. »Warum, Mrs. Stonefield?«
    »Weil er vor seinen Besuchen in Limehouse immer rastlos und in sich gekehrt war«, antwortete sie. »Ganz anders als sonst. Er wollte dann oft allein sein und ging dabei häufig im Zimmer auf und ab. Er war bleich, konnte nicht essen, seine Hände zitterten, und sein Mund war trocken. Wenn jemand so große Angst hat, Mr. Rathbone, ist es nicht schwer, das zu bemerken, vor allem, wenn es sich um jemanden handelt, den man gut kennt und liebt.«
    »Natürlich«, murmelte er. Er war sich ganz deutlich der Tatsache bewußt, daß Caleb sich nun über das Geländer beugte und zwei Geschworene ihn anstarrten, als sei er ein wildes Tier und als würde er, wenn er nicht gefesselt wäre, vielleicht sogar mit einem Satz auf sie herunterspringen. »Gab es sonst noch etwas?«
    »Manchmal hat er geträumt«, erwiderte sie. »Dann hat er laut aufgeschrien, Calebs Namen gerufen und gesagt: ›Nein! Nein!‹ Und dann wachte er schweißgebadet auf und zitterte am ganzen Leib.«
    »Hat er Ihnen erzählt, worum es in diesen Träumen ging?«
    »Nein. Er war zu aufgeregt.« Sie schloß die Augen, und ihre Stimme bebte. »Ich hielt ihn dann einfach in den Armen, bis er wieder einschlief, wie ich es bei einem Kind getan hätte.«
    Im Gerichtssaal herrschte absolutes Schweigen. Ausnahmsweise hatte nun sogar Caleb den Kopf gesenkt, so daß man sein Gesicht nicht sehen konnte. In der Menge hörte man nur vereinzelte Seufzer von Leuten, die den Atem angehalten hatten und jetzt mühsam beherrscht wieder weiteratmeten.
    Enid sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und umklammerte Hesters Hand.
    »Ich bin mir darüber im klaren, daß dies Ihnen nur Schmerz bringen kann«, nahm Rathbone seine Befragung nach einer kurzen Pause wieder auf, nachdem er Genevieve Zeit gelassen hatte, sich wieder zu sammeln. »Aber es gibt einige Fragen, die ich stellen muß. Als Ihr Mann nicht zurückkehrte, was haben Sie da unternommen?«
    »Am nächsten Tag bin ich ins Geschäft gegangen und habe Mr. Arbuthnot, den Angestellten meines Mannes, gefragt, ob Angus vielleicht aus geschäftlichen Gründen

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