Sein Bruder Kain
klaren hellblauen Augen an, die so ganz anders waren als die Olivers, der trotz seines blonden Haars sehr dunkle Augen hatte. »Irgend etwas hat dich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ist es dein Verstand, oder sind es deine Gefühle? Meinst du, du wirst verlieren, obwohl du gewinnen solltest, oder gewinnen, obwohl du verlieren solltest?«
Oliver konnte nicht umhin zu lächeln. »Verlieren, obwohl ich gewinnen sollte, denke ich.«
»Faß den Fall für mich zusammen.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und richtete den Stiel geistesabwesend auf Oliver.
»Und sprich nicht mit mir, als wäre ich ein Geschworener! Sag mir einfach die Wahrheit.«
Oliver stieß ein kurzes scharfes Lachen aus und zählte die nackten Tatsachen auf, soweit sie ihm bekannt waren. Seine eigenen Eindrücke erwähnte er nur dann, wenn er glaubte, daß sie zum Verständnis beitrugen und nicht durch Beweise gestützt wurden. Als er geendet hatte, sah er seinen Vater in Erwartung einer Antwort an.
»Das ist also wieder mal ein Fall von Monk«, bemerkte Henry. »Hast du Hester noch einmal gesehen? Wie geht es ihr?« Oliver fühlte sich unbehaglich. Das war ein Thema, über das er nicht nachdenken und erst recht nicht diskutieren wollte.
»Es ist äußerst schwierig, die Geschworenen in einem Mordfall ohne eine Leiche zu einem Schuldspruch zu bewegen«, sagte er gereizt. »Aber wenn je ein Mann verdient hat zu hängen, dann ist es Caleb Stone. Je mehr ich von Angus erfahre, um so mehr bewundere ich ihn und um so verabscheuungswürdiger erscheint mir Caleb. Der Mann ist gewalttätig, zerstörerisch - ein Ungeheuer.«
»Aber…« Henry hob die Augenbrauen und sah Oliver wohlwollend an.
»Er scheint nicht die leisesten Gewissensbisse zu haben«, fuhr Oliver fort. »Nicht einmal, wenn er die Witwe seines Bruders ansieht - und er weiß, daß fünf Kinder da sind, und niemand kann sagen, was jetzt aus ihnen werden wird…« Er hielt inne.
»Zweifelst du an seiner Schuld?« fragte Henry und nahm einen Schluck von seinem Bordeaux.
Oliver ergriff ebenfalls sein Glas. Der Wein leuchtete im Widerschein des Feuers rubinrot, und sein klares, kräftiges Aroma stieg ihm zu Kopf.
»Nein. Er ist nur auf eine so vitale Art und Weise präsent. Selbst wenn ich ihn nicht ansehe, was ich so gut wie nie tue, bin ich mir seiner Gefühle bewußt, seines Zorns… und seiner Qual… und seiner Intelligenz.«
»Und wenn du gewinnst, wird man ihn hängen.«
»Ja.«
»Und das stört dich?«
»Ja.«
»Und wenn du verlierst, wird er ein freier Mann sein, schuldig und freigesprochen.«
»Ja.«
»Ich kann dir nicht helfen, außer mit einem ruhigen Abend am Feuer und einem weiteren Glas Bordeaux. Du weißt bereits, was ich sagen würde.«
»Ja, natürlich weiß ich das. Ich nehme an, ich wollte es mir einfach nicht selbst sagen.« Er nahm genußvoll einen weiteren Schluck aus seinem Glas. Wenigstens bis es Zeit für ihn war, wieder nach Hause zu fahren, würde er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.
Monk war nicht im Gericht gewesen. Man würde ihn als Zeugen aufrufen, daher konnte er der Verhandlung nicht eher beiwohnen, als bis er seine Aussage gemacht hatte, und er verspürte kein Verlangen, in den Fluren herumzulungern, um hier und da eine Neuigkeit aufzuschnappen.
Von Drusilla Wyndham hatte er nichts mehr gehört. Wenn sie die Polizei wegen seines angeblichen Übergriffs hinzuziehen wollte, hatte sie die Angelegenheit offensichtlich hinausgezögert. Er hielt es für weit wahrscheinlicher, daß sie um die Sinnlosigkeit einer solchen Anklage wußte und ihn mit Hilfe von Gerüchten ruinieren wollte, einer langsameren und subtileren Art der Folter, die außerdem viel mehr Erfolg versprach. Er würde warten müssen, das Damoklesschwert über seinem Haupt, ohne zu wissen, wann es auf ihn herabstürzte.
Er ging aufs Polizeirevier, um mit Evan zu sprechen, wo er erfuhr, daß man diesen ins Crouch End geschickt hatte, um jemanden zu befragen, der des Einbruchs verdächtigt wurde. Man erwartete ihn erst morgen wieder auf dem Revier. Außerdem konnte er ohnehin nur wenig für Monk tun, solange er nicht wenigstens wußte, um welchen Fall es ging, falls es überhaupt einen gab.
Monk eilte über das kalte Pflaster und nahm die Windstöße, die ihm ins Gesicht bliesen, kaum wahr. Eine Kutsche fuhr zu dicht am Straßenrand an ihm vorbei, und ihre Räder gerieten in den Rinnstein und durchnäßten ihn. Seine Hose flatterte feucht um seine Knöchel.
Was hatte er Drusilla
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