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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wissen, und Sie sind der einzige, der es uns sagen kann.«
    »Natürlich«, erwiderte Ravensbrook entschlossen. »Es war fast drei Jahre nach ihrer Ankunft. Angus war immer ein… ein ruhiges Kind, fleißig und gehorsam. Caleb schien ihm das zu verübeln.
    Es war viel schwieriger, ihn an eine gewisse Disziplin zu gewöhnen als seinen Bruder. Er nahm jede Zurechtweisung übel. Er hatte ein unglückliches Temperament.«
    Auf der Anklagebank sah man, wie Calebs Kopf ruckartig in die Höhe fuhr, und diese Bewegung erregte die Aufmerksamkeit mehrerer Geschworener. Sie betrachteten ihn mit neu erwachtem Interesse.
    »Beruhte die Entfremdung der Brüder auf Gegenseitigkeit?« fragte Rathbone.
    Wieder zögerte Ravensbrook so lange, daß Rathbone sich genötigt sah, die Frage zu wiederholen.
    »Man hatte nicht den Eindruck«, sagte Ravensbrook endlich.
    »Gewiß, im Laufe der Zeit wurde Angus noch… eifriger in seinen Studien, ein noch angenehmerer Gefährte…«
    Caleb stieß ein Schnauben aus, das beinahe ein Aufschrei war. Zorn lag in diesem einen Laut, aber auch ein unterschwelliger Schmerz, und Rathbone spürte plötzlich das Gewicht der Ablehnung, das dahinterstand. Nach all diesen Jahren waren die Verwirrung und die bittere Erkenntnis, erst an zweiter Stelle zu stehen, das Wissen, daß der Bruder bevorzugt wurde, noch immer nicht vergessen. Er dachte an seinen eigenen Vater und das Band zwischen ihnen. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß er jemals das Gefühl gehabt hatte, es würde von irgend etwas bedroht. Eifersucht war ihm fremd.
    »Und Caleb war anders?« fragte er nach.
    Ravensbrooks Kiefer verkrampfte sich, und sein Gesicht war sehr blaß. »Ja«, sagte er tonlos. »Er war rebellisch, streitsüchtig, ein verstocktes Kind.«
    »Haben Sie ihn geliebt?« Diese Frage hatte er ursprünglich nicht stellen wollen. Sie hatte nichts mit seinem Fall zu tun. Er sprach, ohne nachzudenken, nur aus einer jähen, überwältigenden Gefühlsaufwallung heraus, die unentschuldbar war und absolut unprofessionell.
    »Natürlich«, antwortete Ravensbrook und zog seine dunklen Augenbrauen ganz leicht in die Höhe. »Man entzieht einem Familienmitglied doch nicht seine Loyalität oder seine Zuneigung, nur weil es von anderer Natur ist. Man hofft, daß es mit einiger Fürsorge seinen Schwierigkeiten entwachsen wird.«
    »Und ist Caleb ihnen entwachsen?« Ravensbrook antwortete nicht.
    »Ist er dem Neid auf seinen Bruder je entwachsen?« Rathbone ließ nicht locker. »Sind sie einander je wieder so nahe gewesen wie mit fünf Jahren?«
    Ravensbrooks Gesicht war angespannt, konzentriert und voller Bitterkeit, als zwinge er sich eine eiserne Beherrschung auf.
    »Ich hatte nicht den Eindruck.«
    Von der Anklagebank war ein kurzes, bellendes Hohngelächter zu hören, und der Richter fuhr herum, um Caleb einen strafenden Blick zuzuwerfen. Er hatte bereits tief Luft geholt, um ihn zurechtzuweisen, falls er noch einen weiteren Laut von sich geben sollte. Einer der Geschworenen runzelte die Stirn, ein anderer schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen.
    Ebenezer Goode versteifte sich. Es war das erste negative Zeichen in seinem Fall, obwohl er Calebs Benehmen gewiß gekannt haben mußte, die Tatsache, daß sein Gesichtsausdruck allein schon gegen ihn sprach. Es gab keine Beweise, zumindest bisher nicht, die ganze Sache beruhte auf Vermutungen und Einschätzungen, war eine Frage der Interpretation.
    Rathbone wollte den einmal eingeschlagenen Weg weiter verfolgen.
    »Lord Ravensbrook, würden Sie dem Gericht bitte in groben Zügen die Beziehung zwischen den beiden Brüdern schildern, wie sie sich während ihrer Jugend in Ihrem Haus entwickelte? Ist Ihnen zum Beispiel dieselbe Erziehung zuteil geworden?«
    Ein bitteres Lächeln zuckte um Ravensbrooks fein geschnittenen Mund und war sofort wieder verschwunden.
    »Genau dieselbe«, erwiderte er. »Sie hatten einen Lehrer, der sie gemeinsam unterrichtete. Nur die Art und Weise, wie sie darauf reagierten, war anders. Ich habe sie in jeder Hinsicht gleich behandelt, genauso wie der Rest des Personals.«
    »Sie meinen, alle, wirklich alle, hätten die beiden gleich behandelt?« Rathbone heuchelte Überraschung. »Es müßte doch einige gegeben haben, die den einen oder den anderen vorzogen? Sie sagten, die beiden Jungen entwickelten sich in zunehmendem Maß auseinander.«
    Caleb beugte sich auf der Anklagebank vor, sein Gesicht verriet höchste Aufmerksamkeit, und er hörte konzentriert

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