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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zu.
    Ravensbrook mußte sich dessen bewußt sein, aber er stand völlig reglos da. Er hätte aus Stein gemeißelt sein können. Er war ein Mann, der mit qualvoll langsamen Schritten durch einen Alptraum wandelte, und dieses Gefühl spiegelte sich in jeder Faser seines Körpers wider.
    Enid schien sein Gesicht nicht für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
    »Lord Ravensbrook!« Rathbone hatte das Gefühl, seine Aufmerksamkeit erregen zu müssen, bevor es überhaupt Sinn hatte, daß er seine Frage wiederholte.
    Ravensbrook sah langsam zu ihm hinunter.
    »Lord Ravensbrook, Sie haben uns erzählt, wie verschieden diese beiden Jungen wurden. Die Menschen, die mit ihnen zu tun hatten, mußten doch gewiß unterschiedlich für sie empfinden? Angus besaß jeden Vorzug - Ehrlichkeit, Demut, Dankbarkeit, Großzügigkeit -, während Caleb aggressiv war, faul und undankbar. Wenn das so war, konnten die Menschen den beiden Brüdern dann wirklich mit gleicher Zuneigung begegnen?«
    »Vielleicht habe ich mehr für mich selbst als für andere gesprochen«, räumte Ravensbrook widerwillig und mit starrer Miene ein. »Ich habe mein Bestes getan, das nicht zuzulassen, aber im Dorf mag so etwas natürlich vorgekommen sein. Darauf hatte ich keinen Einfluß.«
    »Das Dorf?« Rathbone hatte es versäumt, Ravensbrook zu fragen, wo die beiden Jungen ihre Kindheit verbracht hatten. Ihm hätte klar sein müssen, daß es nicht London gewesen sein konnte.
    »Mein Landhaus in Berkshire«, erklärte Ravensbrook, dessen Gesicht plötzlich weiß geworden war. »Die Atmosphäre dort war besser für sie geeignet als die in der Stadt. Sie konnten Reiten, Jagen und Fischen lernen.« Er holte tief Luft.
    »Männliche Betätigungen. Sie haben auch ein wenig über das Land gelernt und die Verantwortung eines Mannes gegenüber seinen Mitmenschen.«
    Ein oder zwei Leute im Raum ließen zustimmendes Gemurmel hören. Enid sah verwirrt aus, Caleb verbittert.
    »Eine sehr privilegierte Kindheit, will es mir scheinen«, erwiderte Rathbone lächelnd.
    »Ich habe ihnen alles gegeben, was ich ihnen geben konnte«, sagte Ravensbrook ohne besonderen Ausdruck, abgesehen vielleicht von einem gewissen Ernst, der der Trauer entspringen mochte oder vielleicht auch nur eine Wirkung des Lichts auf seinem leidenschaftslosen Gesicht mit den aristokratischen Zügen und den dunklen Augen unter ihren kurzen Brauen war.
    »Sie sagen, daß die Eifersucht zwischen ihnen zugenommen hätte«, fuhr Rathbone fort. Er hatte es mit einem Zeugen zu tun, der nahezu feindselig war, und er mußte ihm jedes einzelne Wort mühsam entlocken. Er verstand den Mann. Die Notwendigkeit, die privatesten Dinge aus der eigenen Familie dem öffentlichen Blick preiszugeben, vor allem den sensationslüsternen Gaffern, das war etwas, das kein anständiger Mann sich wünschen würde, und für einen Menschen wie Milo Ravensbrook mußte es genauso schlimm sein wie die Notwendigkeit, sich feindlichem Feuer zu stellen. Aber es war unvermeidlich, wenn sie Gerechtigkeit wollten und nicht nur eine Strafe für Caleb, sondern auch finanzielle Sicherheit für Genevieve und ihre Kinder. »Würden Sie dem Gericht bitte ein Beispiel für jedwede Zwischenfälle geben, an die Sie sich erinnern können? Wie verhielten sich die beiden Jungen zueinander, wie reagierten sie bei Auseinandersetzungen und Streitigkeiten…«
    Ravensbrook fixierte einen Punkt irgendwo über den Köpfen der Menge.
    »Das würde ich lieber vermeiden.«
    »Selbstverständlich«, erwiderte Rathbone bedauernd.
    »Niemand hat den Wunsch, sich an solche Dinge zu erinnern, aber ich fürchte, es ist notwendig, wenn wir die Wahrheit dieser gegenwärtigen Tragödie aufdecken wollen. Ich bin sicher, das ist auch Ihr Wunsch.« Das stimmte nicht ganz; er war sich durchaus nicht so sicher. Vielleicht wäre es Ravensbrook lieber gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, damit sie als ein ungelöstes Rätsel langsam in der Erinnerung verblaßte. Aber das konnte er natürlich nicht sagen.
    Es entstand ein langes Schweigen. Einer der Geschworenen hustete und förderte ein großes Taschentuch zutage. Ein anderer rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als sei er peinlich berührt. Der Richter starrte Ravensbrook an, Ebenezer Goode, sah mit erwartungsvoller Miene erst Ravensbrook, dann Rathbone ins Gesicht.
    Aber es war Caleb, der die Spannung löste.
    »Du hast es vergessen, wie?« rief er zum Zeugenstand hinunter. Er hatte seine Lippen zurückgezogen und die

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