Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Rathbone.
    Ravensbrook trat mit großer äußerlicher Gelassenheit in den Zeugenstand, aber sein Körper wirkte steif, und seine Augen blickten starr geradeaus. Er wäre vielleicht mit derselben Anspannung und dem verzweifelten Mut einem Erschießungskommando gegenübergetreten. Enid saß wieder im Zuschauerraum, mit Hester neben sich, aber er schien sich ihrer Anwesenheit gar nicht bewußt zu sein und suchte noch viel weniger ihren Blick.
    Nach seiner Vereidigung begann Rathbone mit der Befragung.
    »Mylord, Sie haben beide Brüder seit ihrer Geburt gekannt, nicht war?«
    »Nicht seit ihrer Geburt«, korrigierte Ravensbrook ihn. »Seit dem Tod ihrer Eltern. Sie waren damals gerade fünf Jahre alt.«
    »Ich bitte um Verzeihung.« Rathbone formulierte die Frage neu. »Sie haben sie gekannt. Sie sind mit ihnen verwandt, nicht wahr?«
    »Ja.« Ravensbrook schluckte sichtbar. Rathbone konnte selbst von seinem Platz aus sehen, wie seine Kehle sich zuschnürte, so schwer fiel es ihm zu antworten. Für einen Mann seines Charakters - stolz, unnahbar und dazu erzogen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und sie nur selten in Worte zu fassen, selbst wenn nichts Unschickliches daran war - mußte diese Erfahrung an Folter grenzen.
    »Als sie allein auf der Welt standen«, fuhr Rathbone fort, dem das, was er tun mußte, zutiefst verhaßt war, aber er konnte nicht anders. Ohne diesen Hintergrund gab es keinen Fall. Vielleicht gab es noch nicht einmal mit ihm einen. Setzte er diesen Mann für nichts und wieder nichts dieser raffinierten Folter öffentlicher Schande aus? »Sie haben die beiden in ihrem Haus aufgenommen und für sie gesorgt, als wären sie Ihre eigenen Kinder. War das so?«
    »Jawohl«, antwortete Ravensbrook grimmig. Er ließ Rathbones Gesicht keine Sekunde aus den Augen, als versuche er den Rest des Saals auszublenden und sich einzureden, sie seien allein, zwei Männer, die in der Abgeschiedenheit irgendeines Clubs ein zutiefst persönliches Gespräch führten.
    »Es schien das Naheliegendste zu sein.«
    »Jedenfalls für einen gütigen Menschen«, bemerkte Rathbone.
    »Von ihrem fünften Lebensjahr an lebten Angus und Caleb Stonefield also in Ihrem Haus und wurden als Ihre Söhne großgezogen?«
    »Ja.«
    »Waren Sie damals verheiratet, Mylord?«
    »Ich war Witwer. Meine erste Frau starb sehr jung.« Ein Schatten von Trauer huschte über sein Gesicht, dann war er wieder verschwunden. Es ging nicht an, sich vor anderen Menschen verletzlich zu zeigen. »Meine jetzige Frau habe ich einige Jahre danach geheiratet. Angus und Caleb waren damals bereits erwachsen und wohnten nicht mehr im Haus.« Er sah Enid immer noch nicht an, als fürchte er, sie auf diese Weise irgendwie in die Verwirrung seiner Gefühle hineinzuziehen, so als würde er sich damit noch weiter entblößen, als er es ohnehin schon tat.
    »Sie waren also die einzige Familie, die die beiden hatten?« hakte Rathbone nach.«
    Ebenezer Goode rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
    Caleb entwand sich dem Griff des Wächters neben ihm, so daß seine Handschellen klirrten.
    Der Richter beugte sich vor. »Worauf wollen Sie hinaus, Mr. Rathbone? Bisher scheinen Ihre Fragen lediglich das Offensichtliche zutage gefördert zu haben.«
    »Jawohl, Mylord. Ich möchte Lord Ravensbrook nach der Beziehung der beiden Brüder zueinander befragen, so wie er sie von Kindheit an erlebt hat. Ich versuche lediglich klarzustellen, daß er als Experte in dieser Frage angesehen werden kann.«
    »Das ist Ihnen bereits gelungen. Bitte, fahren Sie fort.« Rathbone verbeugte sich und wandte sich dann wieder an Ravensbrook.
    »Als Sie sie seinerzeit kennenlernten, Mylord, waren die beiden einander da sehr zugetan?«
    Ravensbrook zögerte nur eine Sekunde lang. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck von Verwirrung und Abscheu, als fände er es qualvoll, diese Frage zu beantworten.
    »Ja, sie haben sich extrem… nahegestanden. Damals gab es noch keine Kluft zwischen ihnen.«
    »Wann haben Sie erstmals eine solche Kluft bemerkt?« Ravensbrook antwortete nicht. Sein Gesicht offenbarte Schmerz und Widerwillen, Gefühle, die kaum überraschend waren. Die Erinnerung an jene Zeit, da Angus und Caleb einander geliebt hatten, war ein besonders bitterer Kontrast zur Gegenwart. Das Mitleid für ihn im Saal war geradezu greifbar.
    »Mylord«, drang Rathbone in ihn. »Wann haben Sie das erste Mal so etwas wie eine Kluft zwischen den beiden Brüdern bemerkt? Wir müssen es

Weitere Kostenlose Bücher