Sein Bruder Kain
Charakterzug den ich nie unter Kontrolle bekam. Ich habe alles versucht, was mir zu Gebote stand, und in allem bin ich gescheitert.«
»Und wie stand er zu Angus' Erfolg?« fragte Rathbone. Ravensbrooks Stimme war hart und leise. »Zuerst hat er seinen Erfolg lediglich mit Widerwillen zur Kenntnis genommen. Später haben seine Gefühle sich in richtiggehenden Haß verwandelt, in eine Eifersucht, die er anscheinend nicht beherrschen konnte.«
»Hat er je zu körperlicher Gewalt gegriffen?«
Die Gefühle, die sich Ravensbrooks nun bemächtigten, gingen so tief, daß er ganz leicht zu zittern begann, und seine Haut spannte sich bleich über seine hohen, schmalen Wangenknochen. Aber zumindest für Rathbone war sein Gesichtsausdruck undurchdringlich. Die Gefühle, die in ihm tobten, konnten Zorn, Enttäuschung, Wissen um sein Versagen sein, Schuldbewußtsein oder nichts anderes als ein quälender Kummer.
»Ich kann Ihnen nichts Derartiges berichten, was ich selbst erlebt hätte«, sagte Ravensbrook beinahe lautlos, und doch waren seine Worte in einem völlig stillen Raum, in dem kein Mensch sich rührte, gut zu hören. Nicht ein Stiefel quietschte, nicht ein Rock raschelte. »Wenn Sie miteinander rangen, habe ich sie nie dabei beobachtet.«
»Hat einer von ihnen jemals Verletzungen davongetragen, die sie sich ansonsten nicht erklären konnten?« Rathbone steuerte auf das unvermeidliche Thema zu.
Caleb saß völlig bewegungslos auf der Anklagebank, den Kopf gesenkt, das Gesicht verborgen, als hätte er seine Niederlage bereits akzeptiert.
»Ich kann mich an nichts erinnern«, antwortete Ravensbrook.
»Es ist nur natürlich, daß Jungen auf Bäume klettern, Pferde reiten und gefährliche Kutschfahrten unternehmen.« Die starre Haltung seines Kiefers ließ keinen Zweifel daran, daß er nicht mehr zu dieser Sache sagen würde.
»Natürlich.« Rathbone verbeugte sich und nahm die Entscheidung des anderen Mannes hin. »In welchem Alter verließen sie ihr Zuhause, um verschiedene Wege einzuschlagen, Mylord?«
Ravensbrook zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen.
»Angus trat kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag in eine Handelsfirma in London ein. Es waren Bekannte von mir, und sie waren froh, ihn zu sich nehmen zu können.« In seinem Tonfall schwang Stolz mit, und er hielt den Kopf ein klein wenig höher. »Es schien eine hervorragende Gelegenheit zu sein, und er griff mit beiden Händen zu. Er hatte allergrößten Erfolg. Es dauerte nicht lange, bis er in der Firma aufstieg und schließlich, wie Sie ja wissen, sein eigenes Geschäft gründete.«
»Und Caleb?« fragte Rathbone.
»Caleb ging kurz vorher weg. Er spazierte einfach aus dem Haus. Ich habe gerüchteweise gehört, daß man ihn im Dorf gesehen hätte, Geschichten über Schlägereien und unmäßiges Trinken. « Ravensbrook schwieg einen Augenblick. Im ganzen Saal war kein Laut zu hören. »Dann verstummten die Gerüchte«, fuhr er fort. »Ich nehme an, das war zu der Zeit, als er nach London ging.«
»Aber er hat keine Stellung angenommen, nichts dergleichen?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Haben Sie versucht, eine Stellung für ihn zu finden?« Ravensbrook zuckte leicht zusammen. »Ich konnte ihn niemandem empfehlen. Das wäre nicht ehrlich gewesen. Er war ein gewalttätiger und betrügerischer Mann und schien nur über sehr wenige Fähigkeiten zu verfügen, die von irgendwelchem Nutzen sein konnten.«
Zwischen den anderen Zuschauern saß Enid Ravensbrook sehr still auf ihrem Stuhl, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein solches Mitleid wider, daß man hätte denken können, dieser Kummer hätte ihr schlimmer zugesetzt als die Krankheit. Hester legte einen Arm um sie und zog sie mit einer Sanftheit zu sich heran, als fürchte sie, die andere Frau zu zerbrechen.
»Ich verstehe«, murmelte Rathbone. »Vielen Dank, Mylord. Hat er zu dieser Zeit Haß oder Eifersucht gegen seinen Bruder bekundet, der alles zu haben und zu sein schien, was er nicht hatte oder war?«
»Ja, sehr häufig«, gab Ravensbrook zu. »Er haßte und verachtete seinen Bruder.«
»Er verachtete ihn?« Rathbone täuschte Überraschung vor. Ravensbrooks Gesicht drückte Bitterkeit aus. »Er hielt Angus für schwach und abhängig, fand, daß er weder Mut noch Persönlichkeit besaß. Er hielt ihn für einen Feigling und sagte das auch. Ich nehme an, das war seine Art, sich für sein eigenes Versagen zu entschuldigen, zumindest sich selbst gegenüber.«
»Möglich!« meinte
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