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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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höchst überraschtes Hausmädchen nach Wasser schickte, bevor er sich rasierte, wusch, ankleidete und anordnete, daß das Frühstück um Viertel nach sieben serviert werden sollte. Seine Köchin fand das überhaupt nicht erheiternd und gab das auch zu erkennen. Er scherte sich nicht darum, obwohl gute Köchinnen nicht leicht zu bekommen waren.
    Er verließ das Haus und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg, wobei er seinen hübschen Stock schwang und so tief in Gedanken versunken war, daß er an einem Dutzend Bekannter vorüberging, ohne sie zu sehen, und zwei weitere nur mit den Namen ihrer Väter ansprach.
    Um fünf nach neun stand er vor dem Haus der Ravensbrook und sah Seine Lordschaft in seiner eigenen Kutsche davonfahren. Goode stieg die Stufen hinauf und betätigte den Türklopfer aus Messing.
    »Guten Morgen, Sir«, sagte der Lakai und verriet dabei nur einen Hauch von Überraschung.
    »Guten Morgen«, erwiderte Goode mit einem betörenden Lächeln. »Es tut mir leid, die Familie so früh stören zu müssen, aber es handelt sich um eine Angelegenheit, die nicht warten kann. Würden Sie bitte Lady Ravensbrook fragen, ob ich mit ihr sprechen dürfte? Ich werde selbstverständlich so lange warten, bis es ihr genehm ist.« Er reichte dem Mann seine Karte.
    »Lady Ravensbrook, Sir?« Der Lakai war nicht sicher, ob er sich vielleicht verhört hätte. Es schien absurd. Was konnte ein Rechtsanwalt mit Lady Ravensbrook zu besprechen haben.
    »Wenn Sie bitte so freundlich sein wollen.« Goode trat in die Halle, zog seinen Mantel aus und gab dem Mann auch seinen Hut. Er hatte nicht die Absicht, sich wegschicken zu lassen, und er war daran gewöhnt, seinen Anliegen Nachdruck zu verleihen. Er war nicht zu einem der führenden Londoner Rechtsanwälte geworden, weil er sich leicht abweisen oder übervorteilen ließ.
    »Vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen. Soll ich vielleicht im Morgenzimmer warten? Ja?« Er war in der Vergangenheit nur ein einziges Mal hiergewesen, aber er erinnerte sich daran, daß er die zweite Tür auf der linken Seite nehmen mußte. Er setzte das Einverständnis des Lakaien voraus und schritt durch die Halle; den Diener ließ er mit seinen Kleidungsstücken und dem Auftrag zurück, seinen Wünschen nachzukommen.
    Er mußte in dem ruhigen, luxuriös eingerichteten Raum mit seinen schweren Vorhängen und ungezählten Bücherregalen beinahe eine Dreiviertelstunde warten, aber als sich die Tür endlich öffnete, war es tatsächlich Enid Ravensbrook, die vor ihm stand. Sofort quälten ihn Gewissensbisse. Ihr Blick verriet Angst. Das lavendelfarbene Gewand hing an ihr herunter, obwohl die Zofe sich alle Mühe gegeben hatte, es enger zu machen. Ihr Haar hatte seinen Glanz verloren, und auch die ausgeklügeltste Frisur konnte nicht verbergen, wieviel sie davon während ihrer Krankheit verloren hatte. Ihre Haut war völlig fahl, aber nichts konnte die Intelligenz in ihren Augen oder die verborgene Stärke in den Linien ihrer Wangenknochen, ihrer Nase und ihrem Kiefer verbergen. Sie sah ihn tapfer an.
    »Guten Morgen, Mr. Goode. Mein Diener sagte mir, Sie möchten mich sprechen.« Sie schloß die Tür und ging ganz langsam durch den Raum, als fürchte sie, das Gleichgewicht zu verlieren.
    Er machte Anstalten, ihr zu helfen, begriff dann aber sofort, daß es klüger wäre, es nicht zu tun. Er brannte darauf, die Hand auszustrecken und ihr etwas von seiner Stärke zu geben, aber er durfte sich nicht aufdrängen. Er wußte es, ohne sie anzublicken.
    Sie ging auf den nächsten Stuhl zu und setzte sich; nun huschte auch ein Lächeln über ihre Züge.
    »Vielen Dank, Mr. Goode. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Ich hasse es, gebrechlich zu sein. Nun, was möchten Sie mir sagen? Ich nehme an, es hat mit dem Tod des armen Caleb zu tun. Ich kannte ihn nur sehr oberflächlich, und doch kann ich nicht umhin, darüber zu trauern, daß er so sterben mußte. Obwohl Gott weiß, daß die andere Alternative weit schlimmer gewesen wäre.«
    »Aber Sie kennen Angus«, sagte er schnell. »Angesichts Lord Ravensbrooks Hochachtung und Wertschätzung für ihn und seiner eigenen Dankbarkeit und Zuneigung muß er doch oft hergekommen sein.«
    Es war eine Feststellung, so als zweifle er keinen Augenblick daran, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht spiegelte Unsicherheit und Ablehnung wider.
    »Nein.« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Er kam natürlich her, aber nicht so oft, und er blieb nur selten länger hier. Ich

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