Sein Bruder Kain
Wahrscheinlichkeit, daß Ravensbrook ihn getötet hat.«
»Lord Ravensbrook?« Der Richter war nicht schockiert, er konnte es einfach nicht glauben. »Ist Ihnen klar, was Sie da sagen, Rathbone? Warum um alles in der Welt sollte Lord Ravensbrook irgend jemanden ermorden, ganz zu schweigen von seinem eigenen Mündel, so abstoßend der Mann auch gewesen sein mag? Und noch dazu vor dessen Aussage, in der er die Sache möglicherweise noch als Unfall hätte hinstellen können.
»Genau das will ich herausfinden«, sagte Rathbone mit zusammengebissenen Zähne. »Ich habe Monk jetzt mit dem Fall betraut.«
»Sie haben den Verstand verloren«, sagte der Richter mit einem Seufzer und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als brauche er die Weichheit der Lederpolster, um seinen Körper zu stützen. »Der Gedanke ist doch völlig aus der Luft gegriffen.« Seine Augen wurden schmaler. »Es sei denn, es gäbe da ganz außergewöhnliche Umstände, die Sie vor dem Gericht verbergen? Wenn das der Fall ist, bringen Sie sich in beträchtliche Schwierigkeiten.«
»So ist es nicht«, erwiderte Rathbone mit heftigem Nachdruck. »Ich weiß nicht mehr als das, was bisher enthüllt wurde, aber ich glaube, daß es noch etwas gibt, wovon wir keine Kenntnis haben. Ich möchte, daß der Leichenbeschauer die Untersuchung beginnt und sie dann hinauszögert, damit wir Beweise sammeln können.«
»Und Sie erwarten von mir, daß ich ihm das sage?« Die hellblauen Augen des Richters weiteten sich vor Staunen. »Es tut mir leid, Rathbone, aber selbst wenn ich das täte, würde er ohne irgendeinen Beweis, der Ihre Theorie stützt, mich für genauso verrückt halten wie ich Sie. Ich gebe Ihnen drei Tage.«
»Das ist nicht genug.«
»Vielleicht ist das ganz gut so. Und wenn das alles ist, was ich für Sie tun kann, erlauben Sie mir bitte, mich auf meinen nächsten Fall vorzubereiten. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«
Hester stand ebenfalls früh auf und fuhr mit einem Hansom zu Genevieves Haus. Sie hatte guten Grund anzunehmen, daß sie zu Hause sein würde, da Enid sie nicht länger brauchte und auch die Ereignisse in Old Bailey für sie nicht mehr von Interesse sein konnten. In ihrer gegenwärtigen Situation würde sie wohl auch kaum Besuche empfangen oder selbst welche machen. Die Frage von Angus' Tod würde warten müssen, bis gerichtliche Schritte unternommen werden konnten.
Sie wurde nicht enttäuscht. Genevieve sah blaß und mitgenommen aus, wirkte aber einigermaßen gefaßt.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Hester, als sie in die Küche geführt wurde, den einzigen Raum im Haus, der beheizt war. Die Küche war geräumig und erfüllt von angenehmen Düften frischgebackenen Brotes und trocknender Wäsche, die von der Decke herabhing. Außer ihnen war niemand da. Wahrscheinlich hatte sie der Köchin erlaubt zu gehen, um ihre ständig geringer werdenden Mittel zu schonen. Ein Hausmädchen hatte die Tür geöffnet, und vielleicht gab es noch eine Frau, die ein oder zweimal die Woche kam, um die schwereren Arbeiten zu verrichten. Das Kindermädchen würde gewiß als letztes weggeschickt werden. Ein männlicher Diener hingegen war so teuer, daß man ihn nicht einmal in Erwägung zu ziehen brauchte.
Genevieve lächelte kurz und erwiderte mit großer Aufrichtigkeit: »Wir kommen schon zurecht. Sobald Angus für tot erklärt wird, können wir jemanden mit der Leitung des Geschäfts betrauen und die anstehenden Entscheidungen treffen. Ich denke, es wird eine Weile Schwierigkeiten geben, aber das ist nicht so wichtig.« Sie sah Hester freimütig an. »Ich habe früher schon schlimmer unter Kälte und Hunger gelitten. Den Kindern fällt es schwer, das zu verstehen, aber ich werde es ihnen, so gut ich kann, erklären.«
»Wird Mr. Niven derjenige sein, den Sie bitten, das Geschäft zu leiten?« Es ging sie im Grunde genommen nichts an, aber Hester fragte danach, weil sie hoffte, daß es so war.
Genevieve errötete ganz schwach, aber in ihrer Antwort lag keine Verlegenheit. Ohne sich dafür zu entschuldigen oder die Notwendigkeit zu erklären, ging sie zum Spülstein und machte sich daran, Kartoffeln zu schälen. Sie waren alt und an manchen Stellen schon schwarz. Auf der Bank lagen außerdem Karotten und Rüben.
»Ja. Ich kenne ihn schon lange, und er ist ein durch und durch ehrenwerter Mann«, antwortete sie offen. »Ich denke, Angus wäre mit dieser Entscheidung einverstanden gewesen.«
»Das freut mich.« Hester versuchte zu lächeln, um
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