Sein Bruder Kain
gerichtet hat«, sagte er sanft. »Es wäre sehr verständlich, wenn er ihm dies niemals hätte verzeihen können. Vor allem, da Angus Caleb immer noch die Treue hielt.«
Sie wandte sich ab, und ihre Stimme klang nun noch leiser.
»Ja, ich könnte ihm keinen Vorwurf machen. Und doch scheint er nicht denselben Zorn zu verspüren wie ich. Es ist beinahe so, als…«
Er wartete, beugte sich vor, spürte die Stille im Raum. Sie drehte sich ganz langsam zu ihm um.
»Ich weiß nicht, was Sie von mir erwarten, Mr. Goode…«
»Die Wahrheit, Ma'am. Das ist das einzige, was wirklich zählt, das einzige, das am Ende allen Schmerz überwinden wird.«
»Ich kenne die Wahrheit nicht!«
»Es war beinahe so, als… was?« drängte er sie.
»Als hätte er gewußt, daß dies eines Tages geschehen würde, als sei es nur ein Schlag gewesen, den er schon seit langem erwartet hatte, und die Tatsache, daß es endlich passiert war, das Ende der Angst, beinahe eine Erlösung. Ist es nicht schrecklich, so etwas zu sagen?«
»Nein. Es ist nur traurig«, sagte er sehr freundlich. »Und wenn wir ehrlich sind, würden wir das alle vielleicht so sehen.
Sie lächelte, und zum erstenmal leuchtete auch eine Spur von diesem Lächeln in ihren Augen auf.
»Sie waren sehr freundlich, Mr. Goode. Ich denke, Sie tragen Ihren Namen vielleicht zu recht.«
Zum erstenmal seit vielen Jahren spürte er, wie eine warme Röte in sein Gesicht stieg, eine seltsame Mischung aus Freude und dem Bewußtsein, wie einsam er war.
Oliver Rathbone war anwesend, als das Gericht wieder tagte. Die Zuschauerbänke waren fast leer. Die Zeitungen meldeten in ihren Schlagzeilen, daß Caleb Stone versucht habe, einen weiteren Mord zu begehen, diesmal an dem Mann, der ein Vater und Wohltäter für ihn gewesen war, und daß eine höhere Gerechtigkeit obsiegt habe - er selbst war zum Opfer geworden. Die Angelegenheit hatte ein Ende gefunden.
Der Richter suchte nach Ebenezer Goode, bemerkte seine Abwesenheit und sah Rathbone mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Es gibt niemanden, der verteidigt werden müßte, Mylord«, meinte Rathbone achselzuckend. Er wußte nicht, wo Goode blieb, und war ein wenig besorgt über sein Fehlen. Er hatte mit seiner Unterstützung gerechnet.
»Ach so«, sagte der Richter trocken. »Keine gänzlich befriedigende Erklärung, aber ich nehme an, wir werden uns damit abfinden müssen.« Dann wandte er sich an die Geschworenen und berichtete ihnen in formeller Manier, was sie bereits wußten. Caleb Stone war tot. Es gab keinen Grund mehr, die Verhandlung fortzusetzen, da er nun keine Aussage mehr machen und zu seiner Verteidigung sprechen konnte. Daher konnte es auch kein Urteil geben. Das Verfahren würde ohne Ergebnis eingestellt werden, und die Geschworenen wurden mit einigen Worten des Dankes entlassen.
Rathbone suchte den Richter später in dessen eichenholzvertäfelten Räumen auf; die frühe Märzsonne fiel bleich durch die hohen Fenster.
»Worum geht es?« fragte der Richter mit einiger Überraschung. »Sie haben doch kein Interesse mehr an dieser Angelegenheit, Rathbone. Was auch immer wir von ihm halten mögen, wir können den Fall Caleb Stone nicht weiter verfolgen. Er hat den einzigen Ausweg gewählt, der ihn uns für immer entzieht.«
»Das weiß ich, Mylord« Rathbone blickte auf den Richter, der auf seinem Lederstuhl saß, hinab. »Ich möchte lediglich sicher sein können, daß sein Tod entweder ein Unfall war oder seinem eigenen Willen entsprang.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Der Richter runzelte die Stirn. »Ravensbrook sagte, es sei ein Unfall gewesen, aber selbst wenn es Selbstmord war, sind Sie wirklich so versessen auf die Anklage jedweden Vergehens, daß Sie es beweisen wollen?« Sein Mund wurde schmal. »Warum, Mann? Wollen Sie ihn in ungeweihter Erde begraben wissen? Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, solche Rachsucht. Es hat nichts mit der Versorgung der Witwe zu tun oder mit der Frage, ob sie zu gegebener Zeit und falls sie das wünscht, sich wieder verheiraten kann.«
»Ich glaube nicht, daß es Selbstmord war«, antwortete Rathbone.
»Mord?« Der Richter zog seine Augenbrauen voller Erstaunen hoch. »Haben Sie nicht gehört, was passiert ist? Lord Ravensbrook ist in die Zelle gegangen, um…«
»Ich weiß, was er gesagt hat«, unterbrach Rathbone ihn. »Ich war wenige Minuten später dort. Ich habe Ravensbrook gesehen, und ich habe auch die Leiche gesehen. Ich glaube, es besteht eine gewisse
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