Sein Bruder Kain
bin mir nicht sicher, ob das daran lag, daß Genevieve sich hier ein wenig… unwohl fühlte. Ich glaube, mein Mann hat sie in gewisser Hinsicht eingeschüchtert. Er kann sehr…« Wieder zögerte sie, und schlagartig wurde ihr klar, daß es nicht die Worte waren, mit denen sie rang, ja, noch nicht einmal die Frage, ob sie ihm ihre Gedanken mitteilen sollte, sondern der Gedanke selbst. Es war etwas, das sie lange nicht hatte wahrhaben wollen, weil es zu schmerzlich war.
Er zögerte. Vielleicht war die Sache es nicht wert, daß er sie weiterverfolgte, nicht um einen solchen Preis. Man konnte es dem Leichenbeschauer überlassen, die Angelegenheit mit Diskretion zu erledigen.
Aber der Zweifel währte nur einen Augenblick. Er konnte mit solcher Feigheit nicht leben, und auch ihrer wäre das nicht würdig gewesen.
Er lächelte. »Bitte, Ma'am, sagen Sie mir die Wahrheit, so wie Sie sie empfinden, so wie Sie sie gesehen haben. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Beschönigungen, wie gut sie auch gemeint sein, wie barmherzig sie auch erscheinen mögen.«
»Wirklich?« Sie runzelte die Stirn. »Sowohl Angus als auch Caleb sind tot, die armen Geschöpfe, und ihr Haß ist mit ihnen gestorben, welche Gründe er auch immer gehabt haben mag. Es ist vorbei… zu Ende.«
»Ich wünschte, es wäre wirklich so.« Er meinte seine Worte absolut ehrlich. »Aber Calebs Tod wird eine gerichtliche Untersuchung nach sich ziehen. Wir müssen wissen, warum er plötzlich einen so gewalttätigen und hoffnungslosen Schritt unternommen hat.«
»Müssen wir das?« Ihr Gesicht war ruhig, und sie schien einen Entschluß gefaßt zu haben. »Was spielt das jetzt noch für eine Rolle, Mr. Goode? Es scheint, als hätte er in seinem Leben niemals Frieden gefunden. Können wir ihn jetzt nicht wenigstens begraben lassen und ihm die Ruhe gönnen, soweit seine Seele Ruhe finden kann? Und wir brauchen ebenfalls Ruhe. Mein Mann hat, seit er die beiden in sein Haus geholt hat, kaum etwas anderes als Kummer über dieses oder jenes erfahren.«
»Selbst mit Angus?«
»Nein. Nein, das war ungerecht von mir. Angus hat ihm große Freude gemacht. Er war alles, was er sich wünschen konnte.«
»Aber?« fragte er sanft, aber beharrlich nach.
»Kein Aber.«
»In Ihrer Stimme liegt ein Schatten, ein Zögern«, wandte er ein. »Worum geht es? Was hatte Angus an sich, Lady Ravensbrook, daß Caleb ihn so leidenschaftlich haßte? Sie haben sich einmal so nahegestanden. Warum haben sie sich auf so furchtbare Weise auseinandergelebt? «
»Ich weiß es nicht!«
»Aber Sie haben eine Vermutung? Sie müssen darüber nachgedacht, sich gewundert haben. Und sei es nur wegen des Schmerzes, den diese Tatsache für Ihren Mann bedeutete.«
»Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Ich habe viele Stunden wach gelegen und mich gefragt, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gäbe, die beiden miteinander zu versöhnen. Ich habe mir das Gehirn zermartert. Ich habe immer wieder meinen Gatten danach gefragt, bis mir klarwurde, daß er genausowenig wußte wie ich und daß es ihn schon quälte, auch nur davon zu sprechen. Er und Angus fühlen sich nicht…«
»Nicht was?«
Sie erzählte ihm das alles nur widerstrebend. Er mußte ihr jedes einzelne Worte mühsam entlocken, und er wußte es.
»Sie fühlten sich nicht wohl, wenn sie zusammen waren«, gab sie zu. »Es schien, als sei der Schatten Calebs immer gegenwärtig, eine Düsternis zwischen ihnen, eine Wunde, die nie heilen würde.«
»Aber Sie mochten Angus?«
»Ja, ich mochte ihn, ja.« Jetzt war der Schatten verflogen, und sie sprach mit absoluter Aufrichtigkeit weiter. »Er war ungewöhnlich freundlich. Er war ein Mensch, den man ohne Vorbehalte bewundern konnte, und dabei so bescheiden. Er drängte sich nie in den Vordergrund, war niemals herablassend oder arrogant. Ja, ich mochte Angus wirklich sehr. Ich habe nie erlebt, daß er die Fassung verloren oder etwas Grausames getan hätte.« Die Spuren der Trauer waren deutlich in ihrem Gesicht zu lesen, aber sie entsprangen lediglich dem Verlust eines Menschen, den sie sehr geschätzt hatte.
Er haßte sich dafür, daß er weiter in sie dringen mußte.
»Niemals?«
»Nein«, sagte sie, als hätte sie nicht erwartet, so zu empfinden. »Niemals. Es überrascht mich nicht, daß mein Mann ihn liebte. Er war alles, was er sich von einem Sohn hätte wünschen können, wäre ihm ein Sohn vergönnt gewesen.«
»Er muß Caleb dafür gehaßt haben, daß er ihn zugrunde
Weitere Kostenlose Bücher