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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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»Sie und ich, wir werden uns Angus' Vergangenheit vornehmen. Wir müssen natürlich getrennt vorgehen, denn die Zeit ist viel zu knapp, um zusammenzuarbeiten. Sie wissen bereits viel mehr über Genevieve als ich.« Belustigung und Selbstironie zuckten in seinem Gesicht auf. »Und Sie scheinen ihren Charakter weit besser einschätzen zu können als ich. Bringen Sie bei ihr so viel wie möglich über Angus in Erfahrung, einschließlich der Frage, wo, wann und wie sie einander kennengelernt haben. Entlocken Sie ihr alles, was sie über seine Beziehung zu Caleb - und zu Ravensbrook weiß. Die Wahrheit diesmal. Ich werde zu Ravensbrooks Landsitz fahren und sehen, was ich dort herausfinden kann. Schließlich sind die beiden Brüder ja dort aufgewachsen.«
    »Was ist mit der Isle of Dogs und Limehouse?« fragte Rathbone. »Das übernehme ich«, antwortete Hester sofort.
    »Nachdem ich mit Genevieve gesprochen habe und vielleicht auch mit Titus Niven.«
    Goode war entsetzt. »Sie können nicht nach Limehouse gehen, Miss Latterly! Sie haben ja nicht die leiseste Ahnung, was da auf Sie wartet, sonst würden Sie niemals auf solch einen Gedanken kommen. Eine Dame wie Sie würde…«
    »Ich habe dort den ganzen letzten Monat Typhusopfer betreut, Mr. Goode«, sagte sie geduldig. »Ich bin in einer hervorragenden Position, Nachforschungen in diesem Teil der Stadt anzustellen. Ich möchte sagen, ich weiß mehr über die Menschen dort als irgend jemand sonst hier. Ich könnte Ihnen mindestens zweihundert Namen nennen und Ihnen auch von ihren Familien und Vorfahren berichten. Ich könnte Ihnen erzählen, wer die Toten waren, die sie in den letzten Wochen begraben haben. Die Leute werden eher mit mir reden als mit irgend jemandem von Ihnen. Das kann ich beschwören.«
    Goode sah sie bestürzt und zutiefst beeindruckt an.
    »Ich verstehe. Vielleicht sollte ich mich besser an die Dinge halten, von denen ich etwas verstehe. Wäre es sehr anmaßend von mir, wenn ich mich um Ihre Sicherheit sorgen würde?«
    »Nicht im mindesten, aber wahrscheinlich völlig unnötig«, erwiderte sie mit einem großzügigen Lächeln. »Da Caleb tot ist, wird niemand mehr so versessen darauf sein, ihn zu verteidigen, und niemand braucht noch seine Rache zu fürchten, wenn er ihn verrät, weil er die Wahrheit sagt.«
    Rathbone erhob sich. »Ich glaube, wir sollten alle erst einmal eine Nacht lang darüber schlafen, bevor wir anfangen. Ich schlage vor, daß wir uns in drei Tagen wieder hier treffen und über die Dinge reden, die wir bis dahin erfahren haben.«
    »Einverstanden.« Goode erhob sich ebenfalls. »Miss Latterly, darf ich Ihnen einen Hansom besorgen und Sie nach Hause begleiten?«
    »Vielen Dank«, nahm sie sein Angebot gnädig an. »Das wäre wirklich sehr freundlich. Es war ein recht anstrengender Tag.«

12
    Ebenezer Goode erwachte am nächsten Morgen schon sehr früh. Er konnte nicht mehr schlafen, weil die ungewöhnlichen Ereignisse des vorangegangenen Tages ihn nicht losließen. Er hatte Caleb Stone nicht gemocht; um ehrlich zu sein, hatte er privat kaum daran gezweifelt, daß er seinen Bruder getötet hatte, genau wie die Anklage es behauptete. Aber der Mann hatte eine ungewöhnliche Vitalität besessen, eine Leidenschaft, die es unerwartet schwer machte, seinen Tod zu akzeptieren.
    Er lag, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, in seinem Bett und ging in Gedanken immer wieder durch, was Rathbone gesagt hatte, und dann dieser seltsame Bursche namens Monk. Wußte die Krankenschwester wirklich, wovon sie sprach? War es denkbar, daß Milo Ravensbrook Calebs Tod gewünscht oder, schlimmer noch, ihn herbeigeführt hatte?
    Der Gedanke war besonders gräßlich, wenn er an das bemerkenswerte Gesicht von Lady Ravensbrook dachte, an die Stärke darin, und das trotz der Verwüstungen, die ihre noch gar nicht lange zurückliegende Krankheit in ihren Zügen angerichtet hatte. Sie hatte etwas an sich, das größtes Interesse in ihm weckte. Er ertappte sich sogar dabei, daß ihr Gesicht es war, das hinter seinen geschlossenen Augenlidern auftauchte, ihr Blick, ihr Mund - ja, er glaubte sogar, ihre Stimme in seinen Ohren hören zu können, während er über Mittel und Wege nachdachte, die Wahrheit herauszufinden, die zu beweisen beinahe unmöglich sein würde. Lady Ravensbrook hatte kaum ein Dutzend Worte mit ihm gewechselt, und trotzdem war ihm jede ihrer Regungen so deutlich in Erinnerung geblieben.
    Es war noch dunkel, als er um halb sieben aufstand und ein

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