Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
und von dort aus seinen Weg Gott weiß wohin findet.«
    »Natürlich«, sagte sie gelassen und dachte im stillen darüber nach, wie wichtig er selbst sich wohl nehmen mochte, ob er das Krankenzimmer betreten würde… oder nicht.
    »Wir werden Ihnen ein Bett ins Ankleidezimmer stellen, wo Sie sich ausruhen können«, fuhr er fort. »Sollen wir jemanden zu Ihnen nach Hause schicken, der Ihnen Kleider zum Wechseln holt? Falls Sie das nicht wünschen, bin ich sicher, daß Dingle etwas für Sie finden wird. Sie scheinen eine ähnliche Figur zu haben.«
    Bei dem Gedanken an Dingles sauberes, von ersten Altersfältchen gezeichnetes Gesicht und ihre betont schlichten Kleider fand Hester diesen Vergleich nicht besonders schmeichelhaft, aber andererseits hatte Dingle eine überraschend gute Figur für eine so harte Frau, also war das vielleicht doch kein Grund, deprimiert zu sein.
    »Vielen Dank«, erwiderte sie knapp. »Ich fürchte, ich habe zu Hause auch nicht mehr viele Kleider. Ich war jetzt so viele Tage in Limehouse, daß ich keine Gelegenheit hatte zu waschen.«
    »Nun gut.« Bei der Erwähnung von Limehouse spannte sich seine Miene erneut an, und sein Mißfallen über Enids Aktivitäten dort wurde so deutlich sichtbar, daß es keiner Worte bedurfte nicht daß er auch nur im Traum daran gedacht hätte, dieses Thema mit ihr zu erörtern. »Dann sind wir uns also einig? Sie bleiben hier, solange es nötig ist.« Es war eine Feststellung, und soweit es ihn betraf, war die Angelegenheit damit erledigt.
    »Sie wird möglicherweise die ganze Zeit über Pflege brauchen«, bemerkte sie. »Tag und Nacht, wenn die Krise kommt.«
    »Würde das über Ihre Kräfte gehen, Miss - Latterly?«
    Sie hörte, wie jemand leise hinter ihr durch den Flur ging; dann verklangen die Schritte ganz, als die betreffende Person ein anderes Zimmer betrat.
    »Ja, das würde es«, sagte sie entschlossen. »Vor allem, da ich eine gewisse moralische Verpflichtung gegenüber dem Krankenhaus in Limehouse habe. Ich kann Lady Callandra nicht ohne jede erfahrene Hilfe allein lassen.«
    Ein Ausdruck von Zorn blitzte in seinem Gesicht auf. Er zog scharf die Luft ein.
    »Meine Frau ist mir sehr viel wichtiger, Miss Latterly, als eine Handvoll armer Schlucker im East End, die ohnehin sterben werden, wenn nicht an dieser Krankheit, so an irgendeiner anderen. Falls Sie einen Lohn wünschen, dann sagen Sie das bitte. Es ist nicht unehrenhaft, sich für seine Arbeit bezahlen zu lassen.«
    Sie schluckte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinunter, wenn es sie auch einige Mühe kostete. Sie war zu müde, um sich mit solchen Nichtigkeiten wie Arroganz und irrigen Auffassungen zu beschäftigen.
    »Für mich persönlich ist sie ebenfalls wichtiger, Mylord.« Sie sah ihm sehr direkt in die Augen. »Aber eine Verpflichtung kann wichtiger sein als die eigenen gefühlsmäßigen Bindungen und ganz gewiß wichtiger als die eigenen Wünsche. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie daran genauso fest glauben, wie ich es tue? Ich bin Krankenschwester, und ich lasse nicht einen Patienten wegen eines anderen im Stich, ganz gleich, welcher Natur meine persönlichen Gefühle sein mögen.«
    Eine schwache Röte überzog sein Gesicht, und in seinen Augen spiegelte sich Erbitterung und Zorn wider. Aber Hester hatte ihn beschämt, und sie beide wußten es.
    »Haben Sie eine Freundin oder eine Verwandte, die sich um Ihre Frau kümmern könnte, während ich fort bin?« fragte sie leise. »Ich könnte ihr zeigen, was getan werden muß.«
    Er dachte einen Augenblick nach. »Ich nehme an, das wäre durchaus möglich. Ich kann nicht zulassen, daß Dingle im Krankenzimmer ein und aus geht und die Seuche im ganzen Haus verbreitet. Aber Genevieve ist vielleicht bereit, die notwendige Zeit hier zuzubringen. Das Personal kann sich um ihre Kinder kümmern. Das wäre eine gute Lösung. Es würde ihr für den Augenblick weiterhelfen; sie würde uns einen großen Dienst erweisen und sich nicht verpflichtet fühlen müssen. Sie ist eine sehr stolze Frau.«
    »Genevieve?« Es spielte eigentlich keine Rolle, von wem er sprach, aber sie wollte es trotzdem gern wissen.
    »Eine Verwandte«, erwiderte er kühl. »Eine angeheiratete Verwandte. Außerdem eine sehr angenehme junge Frau, die sich im Augenblick in einer schwierigen Lage befindet. Das ist wirklich die beste Lösung. Ich werde mich sofort darum kümmern.«
    Und so kam es, daß Hester im Ravensbrookschen Haus untergebracht wurde, mit dem

Weitere Kostenlose Bücher