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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Raum und ließ die Tür hinter sich einen Spaltbreit offen.
    Er war gerade lange genug fort gewesen, daß Hester sich auf das Bett neben Enid setzen und sie ängstlich betrachten konnte, während diese begann, sich hin und her zu wälzen, als die Tür abermals weit aufgerissen wurde und eine Frau von ungefähr vierzig Jahren ms Zimmer eilte. Sie war eine schlichte, unelegante Erscheinung und trug ein graues Wollkleid, das sehr streng wirkte, aber außerordentlich gut geschnitten war und eine aufrechte und wohlgeformte Figur betonte. Im Augenblick schien sie jedoch in einem Zustand großer Unruhe zu sein.
    »Ich bin Dingle, Lady Ravensbrooks Zofe«, verkündete sie, sah dabei jedoch nicht Hester an, sondern nur Enid. »Was ist geschehen? Ist es Typhus?«
    »Ja, ich fürchte schon. Können Sie mir helfen, sie auszukleiden und dafür zu sorgen, daß sie es so bequem wie möglich hat?«
    Sie machten sich zusammen an die Arbeit, aber es war keine leichte Aufgabe. Enid hatte jetzt Schmerzen am ganzen Körper, in den Knochen und Gelenken, ja sogar ihre Haut reagierte empfindlich auf jede Berührung, und sie hatte solche Kopfschmerzen, daß sie es nicht ertragen konnte, die Augen zu öffnen. Sie schien immer wieder das Bewußtsein zu verlieren, nur um Augenblicke später wieder zu sich zu kommen, und wenn ihr in der einen Sekunde noch entsetzlich heiß war, so konnte sie in der nächsten schon vor Kälte zittern.
    Das einzige, was man für sie tun konnte, war, sie in regelmäßigen Abständen mit kühlem Wasser abzuwaschen, um das Fieber zumindest ein wenig zu senken. Es gab Augenblicke, in denen die Kranke die beiden anderen Frauen wahrnahm, aber meistenteils tat sie das nicht. Der Raum schwankte, blähte sich auf und verschwand wie eine grauenvolle Vision im Spiegel, die bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war.
    Es dauerte fast zwei Stunden, bis es an der Tür klopfte und ein kleines und sehr verängstigtes Hausmädchen, das sicheren Abstand zum Krankenzimmer hielt, sie darüber informierte, daß Seine Lordschaft zu Hause sei, und ob die Miss ihn bitte sofort in der Bibliothek aufsuchen könne.
    Also ließ sie Enid bis zu ihrer Rückkehr in Dingles Obhut; bis dahin würde es notwendig sein, die Wäsche zum erstenmal zu wechseln. Jetzt aber folgte Hester dem Hausmädchen, um dem Wunsch Seiner Lordschaft nachzukommen. Die Bibliothek lag im Erdgeschoß auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Es war ein ruhiger, behaglich möblierter Raum mit einer Vielzahl von Eichenregalen. Im Kamin brannte ein großes Feuer. Man brauchte kaum genauer hinzusehen, um das glänzende Holz, die Wärme, den schwachen Duft nach Lavendel, Bienenwachs und Leder wahrzunehmen und zu wissen, welchen Luxus all dies verkörperte.
    Milo Ravensbrook stand am Fenster, drehte sich jedoch sofort um, als er Hesters Schritte hörte.
    »Schließen Sie die Tür, Miss…«
    »Latterly.«
    »Ja, Miss Latterly.« Er wartete, bis sie seiner Bitte nachgekommen war. Er war ein hochgewachsener Mann und sah auf eine dunkle, äußerst aristokratische Art und Weise außerordentlich gut aus. In seinem Gesicht schienen sich Temperament und Charme gleichzeitig zu spiegeln. Er mochte ein wunderbarer Freund sein, amüsant, intelligent und von rascher Auffassungsgabe, aber sie hatte auch den Eindruck, daß er ein unversöhnlicher Feind werden konnte. »Man hat mich darüber informiert, daß Sie Lady Ravensbrook nach Hause gebracht haben, nachdem Ihnen klarwurde, daß sie krank ist«, sagte er und ließ die Feststellung halb wie eine Frage klingen.
    »Ja, Mylord.« Sie wartete darauf, daß er weitersprach, und suchte in seinen Zügen nach Furcht oder Mitgefühl. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Der Mann hatte etwas Steifes an sich, das zum einen seiner Natur entsprach und zum anderen eine Folge der strengen, auf Selbstbeherrschung ausgerichteten Erziehung war. Sie hatte schon viele solcher Männer kennengelernt, sowohl in der Aristokratie als auch in der Armee. Sie waren in Familien hineingeboren worden, für die Macht und Verantwortung etwas so Selbstverständliches waren wie Privilegien. Sie erwarteten den Respekt und den Gehorsam anderer und betrachteten die Selbstdisziplin, die ihnen seit Kindertagen beigebracht wurde, als Preis, den sie dafür zahlen mußten - mit all der Härte gegenüber jedweden Schwächen, seien sie gefühlsmäßiger oder körperlicher Natur. Er stand stramm wie ein Soldat in der Bibliothek, umgeben von den warmen Farben von altem Holz, Samt und

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