Sein Bruder Kain
Leder, und es war ihr unmöglich, ihn einzuschätzen. Wenn Sorge um seine Frau ihn quälte, verstand er es meisterlich, diesen Umstand vor ihr zu verbergen. Wenn es ihm widerstrebte, sie als Pflegerin zu engagieren, oder wenn er Angst hatte, sich ebenfalls anzustecken, so ließ er sich auch davon nichts anmerken.
»Mein Lakai sagte, Sie seien Krankenschwester. Ist das korrekt?« Er bewegte die Lippen so wenig beim Sprechen, daß ihr schwerfiel, ihn zu verstehen, aber Hester hörte eine Veränderung in seinem Tonfall, als er das Wort »Krankenschwester« aussprach, das seine Gefühle verriet. Krankenschwestern waren im allgemeinen Frauen der übelsten Sorte; oft waren sie betrunken, unehrlich und von einem Äußeren, das es ihnen erschwerte, wenn nicht unmöglich machte, den lohnenderen Beruf der Prostituierten zu ergreifen. Ihre Pflichten bestanden überwiegend im Schrubben und Ausleeren von Eimern; gelegentlich mußten sie gebrauchtes Verbandsmaterial wegschaffen oder neue Bandagen anlegen und sich um die Wäsche kümmern. Die eigentliche Fürsorge für die Patienten oblag den Ärzten, ganz besonders, wenn es um Entscheidungen ging, die Versorgung von Wunden oder die Ausgabe von Medikamenten.
Natürlich waren sich seit Florence Nightingales Wirken auf der Krim viele Menschen der Tatsache bewußt, daß eine Krankenschwester weit mehr sein konnte, aber das war beileibe nicht die Regel. Lord Ravensbrook gehörte offensichtlich der Riege der Skeptiker an. Wenn man ihn nicht dazu herausforderte, würde er gewiß nicht zu unverhohlenen Beleidigungen greifen, aber in seinen Augen war sie nicht besser als Mary oder irgendeine andere der Frauen aus dem East End, die in dem Pesthaus arbeiteten. Hester spürte, wie sich ihr Körper vor Zorn versteifte und ihre Kiefermuskeln sich verkrampften. Trotz all ihrer Unwissenheit und des Schmutzes, aus dem sie kam, besaß Mary ein mitfühlendes Herz, das seinen Respekt verdient hätte.
Sie bemühte sich, noch aufrechter zu stehen.
»Ja, ich bin Krankenschwester.« Sie fügte kein »Sir« hinzu.
»Ich habe meinen Beruf auf der Krim erlernt, bei Miss Nightingale. Meine Familie war nicht damit einverstanden, was mich nicht weiter überrascht hat. Man fand, ich solle zu Hause bleiben und einen passenden Mann heiraten. Aber das war nicht der Weg, den ich einzuschlagen wünschte.« Sie sah in seinem Gesicht, daß er nicht das leiseste Interesse an ihrem Leben hatte oder an den Gründen für ihre Entscheidung, aber es war klar, daß er, wenn auch widerwillig, einen gewissen Respekt empfand. Ihre Arbeit auf der Krim verdiente Anerkennung, das konnte nicht einmal er leugnen.
»Ich verstehe. Wahrscheinlich haben Sie auch schon früher Fieberkranke versorgt und nicht erst in Limehouse?«
»Bedauernswerterweise ja.«
Er hob seine schwarzen Augenbrauen, die sich über seinen tiefliegenden Augen wölbten.
»Bedauernswerterweise? Aber verschafft Ihnen das nicht den Vorteil der Erfahrung?«
»Es ist keine schöne Erfahrung. Ich habe zu viele Menschen sterben sehen, deren Tod zu vermeiden gewesen wäre.«
Seine Miene wurde düster. »Ich interessiere mich nicht für Ihre politischen Ansichten, Miss - ähm - Latterly. Mein einziges Interesse gilt Ihrer Fähigkeit und Ihrer Bereitschaft, meine Frau zu betreuen.«
»Natürlich bin ich dazu bereit. Und ich bin genausogut in der Lage dazu wie jede andere auch.«
»Dann müssen wir nur noch die Frage Ihrer Entlohnung klären.«
»Ich betrachte Lady Ravensbrook als Freundin«, sagte sie eisig. »Ich erwarte keine Entlohnung.« Bedauern konnte sie ihre Antwort später noch. Sie brauchte das Geld, brauchte es dringend, aber es war ihr eine ungeheure Befriedigung, ihn jetzt in die Schranken zu weisen. Das waren ein wenig Kälte oder Hunger schon wert.
Er war verblüfft. Das konnte sie in seinem Gesicht lesen. Er betrachtete ihre schmutzigen, verknitterten Kleider von äußerst mittelmäßiger Qualität, ihr müdes Gesicht und das zerzauste Haar, und ein winziger Anflug von Belustigung huschte über seinen Mund und verschwand sofort wieder.
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet«, nahm er ihr Angebot an. »Dingle wird sich um die anfallende Wäsche kümmern und Ihnen alles, was Sie an Mahlzeiten benötigen, zubereiten und servieren, aber da sie mit den anderen Dienstboten in Berührung kommt, wird sie das Krankenzimmer nicht betreten. Ich habe die Verantwortung zu tun, was ich kann, um zu verhindern, daß das Fieber sich im ganzen Haus ausbreitet
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