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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Ravensbrook nicht früher nach mir geschickt?«
    »O nein, sie ist erst heute krank geworden. Wir waren unten in Limehouse, wo der Typhus ausgebrochen ist«, erwiderte Hester, während sie an das Bett der Kranken trat.
    »Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl nicht sehr klar ausgedrückt.«
    Genevieve schluckte, und ihre Kehle krampfte sich zusammen, als müsse sie ersticken.
    »Limehouse?«
    »Ja. Da haben wir im Augenblick einen schlimmen Ausbruch der Seuche. Wir haben ein stillgelegtes Lagerhaus notdürftig in ein Hospital verwandelt.«
    »Oh. Das ist sehr lobenswert von Ihnen. Ich glaube, Limehouse ist alles andere als angenehm. Natürlich kenne ich es nicht«, fügte sie hastig hinzu.
    »Nein«, erwiderte Hester. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Verwandter von Lord Ravensbrook Limehouse oder irgendeinen anderen Ort im East End kannte. »Bevor ich gehe, sollten wir die Bettwäsche wechseln. Zu zweit ist das sehr viel einfacher. Dingle wird die schmutzigen Laken holen und sich um alles weitere kümmern.«
    Hester hatte bereits gute Nacht gesagt und war schon fast an der Tür des Ankleidezimmers angelangt, als Genevieves Stimme sie noch einmal aufhielt.
    »Miss Latterly! Was - was können Sie für die Menschen in Limehouse tun? Das ist etwas anderes als hier, nicht wahr? Und wird es nicht - nun ja - furchtbar viele Kranke geben?«
    »Ja und nein, es ist nicht so wie hier.« Genevieve mit ihrem bezaubernden Gesicht und ihren gutgeschnittenen Kleidern konnte nicht die leiseste Vorstellung von dem behelfsmäßigen Fieberhospital in Limehouse haben, von dem Gestank, dem Leiden, dem entsetzlichen, unnötigen Schmutz, den überquellenden Abfallhaufen, dem Hunger und der Hoffnungslosigkeit. Es hatte keinen Sinn, ihr das alles zu sagen, und es wäre auch nicht besonders gütig gewesen. »Wir tun, was wir können«, sagte sie kurz. »Das ist schon eine Hilfe. Selbst wenn nur jemand dort ist, der versucht, die Menschen kühl und sauber zu halten und ihnen ein wenig Haferschleim einzuflößen, ist das besser als nichts.«
    »Ja, natürlich.« Sie schien das Thema noch weiter erörtern zu wollen, aber vor weiteren Fragen zurückzuschrecken. »Gute Nacht.«
    »Gute Nacht, Mrs. Stonefield.«
    Erst als Hester sich in der Wasserschüssel, die man für sie heraufgebracht hatte, das Gesicht wusch, fiel ihr der Name plötzlich wieder ein. Stonefield. Das war der Name des Mannes, den Monk in Limehouse suchte. Er hatte gesagt, Stonefield sei ein respektabler Mann, der plötzlich verschwunden war, ohne ersichtlichen Grund bis auf den, daß er seinen Bruder im East End besucht hatte. Und seine Frau fürchtete, er sei tot.
    Aber Enid hätte doch sicher etwas gesagt, wenn sie Monks Fragen gehört hätte? Allerdings war Enid nicht im Zimmer gewesen, nur Monk, Callandra und sie selbst. Im Augenblick war sie jedoch zu müde, weiter darüber nachzudenken. Das einzige, was sie wollte, war, sich den Staub aus den Augen zu wischen, das warme, saubere Wasser auf ihrer Haut zu spüren und sich dann niederzulegen und endlich nicht mehr gegen die Erschöpfung ankämpfen zu müssen.
    Geweckt wurde sie von einem beharrlichen Rütteln und einer Stimme, die wieder und wieder ihren Namen flüsterte. Mit größter Mühe befreite sie sich aus den Fängen des Schlafs und stellte fest, daß ein graues, fahles Licht in den Raum fiel; Genevieves weißes, ängstliches Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt.
    »Ja?« murmelte sie und bemühte sich, wach zu werden und den letzten Rest Schlaf abzuschütteln. Es konnte doch nicht schon Morgen sein? Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sich gerade erst hingelegt.
    »Miss Latterly! Tante Enids Zustand hat sich anscheinend verschlechtert. Ich habe es nicht gewagt, Sie noch länger schlafen zu lassen. Ich weiß, wie müde Sie sein müssen, aber…«
    Hester raffte sich auf, tastete blind nach ihrem Morgenmantel und erinnerte sich dann daran, daß sie keinen hatte. Selbst ihr Nachthemd gehörte Dingle. Also ignorierte sie die Kälte - es brannte kein Feuer im Ankleidezimmer, obwohl es einen Kamin gab und ging an Genevieve vorbei ins Schlafzimmer.
    Enid warf sich von einer Seite auf die andere und stieß leise, beinahe kindliche, wimmernde Klagelaute aus, als nehme sie ihre Umgebung überhaupt nicht mehr wahr. Sie schien vollends in ihre Fieberphantasien versunken zu sein. Auf ihrer Haut stand Schweiß, obwohl sich der Wasserkrug und ein Tuch auf dem Nachttisch befanden und das Tuch noch immer

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