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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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schwerhörig?« fragte sie, nun etwas lauter. »Gehen Sie, und holen Sie Ihre Herrin, bevor sie ohnmächtig wird und sich verletzt.«
    »Ja, Ma'am.« Plötzlich setzte er sich in Bewegung und ging mit ausholenden Schritten an ihr vorbei, die Treppe hinunter und über den im Lampenlicht feucht glitzernden Gehsteig zu dem Hansom hinüber, dessen Droschker nervös die Zügel von einer Hand in die andere nahm, während er die Haustür anstarrte, als sei sie ein offenes Grab.
    Der Lakai riß die Tür auf und streckte mit einem Gesichtsausdruck, als treibe er sein Pferd in die Schlacht, Kopf und Schultern durch die Tür, um Enid, die bewußtlos auf den Sitz gesunken war, aus der Kutsche zu heben. Sobald er sie zu fassen bekommen hatte, was selbst für einen Mann mit seiner Kraft kein leichtes Unterfangen war, zog er sie heraus, straffte sich und trug sie auf den Armen über den Gehweg zum Hauseingang.
    Hester machte einen Schritt die Treppe hinunter und suchte in ihrem Retikül nach Geld, um den Kutscher zu entlohnen, aber der hatte es so eilig, sein Pferd wieder in Marsch zu setzen, daß er bereits hochaufgerichtet die lange Peitsche über dem Kopf des Tieres kreisen ließ. Bevor sie ihn erreichen konnte, war er schon wieder auf der Straße und beschleunigte das Tempo.
    Sie war nur für einen kurzen Augenblick überrascht. Er wußte, woher sein Fahrgast kam, und als er des Hauses und des livrierten Dieners ansichtig wurde, hatte er die Wahrheit erraten. Er wollte sie nicht in seiner Nähe haben oder irgend etwas aus ihrer Hand entgegennehmen, nicht einmal Geld.
    Hester seufzte, folgte dann dem Lakaien ms Haus und schloß die Tür hinter sich.
    Der Mann stand unschlüssig inmitten der Halle, und Enid lag hilflos wie eine Stoffpuppe in seinen Armen.
    Hester suchte nach einem Klingelzug, um Hilfe herbeizuholen.
    »Wo ist die Glocke?« fragte sie scharf.
    Er wies mit dem Kopf auf einen hübsch gearbeiteten Klingelzug. Außer dem Lakaien war bisher vom Personal noch niemand erschienen, wahrscheinlich, weil sie wußten, daß es zu seinen Pflichten gehörte, die Tür zu öffnen. Sie ging auf den Klingelzug zu und zerrte heftiger daran, als sie beabsichtigt hatte.
    Beinahe augenblicklich erschien ein Stubenmädchen; es sah zuerst zum Lakaien, dann zu Enid und wurde schlagartig fahl im Gesicht.
    »Ein Unfall?« fragte sie mit einem leichten Stottern.
    »Fieber«, antwortete Hester und ging auf sie zu. »Sie sollte sofort ins Bett gebracht werden. Ich bin Krankenschwester. Wenn Lord Ravensbrook es wünscht, werde ich bleiben und mich um sie kümmern. Ist er zu Hause?«
    »Nein, Ma'am.«
    »Ich glaube, Sie sollten nach ihm schicken. Sie ist sehr krank.«
    »Sie hätten sie früher nach Hause bringen sollen«, sagte der Lakai tadelnd. »Sie hatten kein Recht, sie so lange in diesem Hospital zu behalten, daß sie in einen solchen Zustand geraten konnte.«
    »Es kam sehr plötzlich.« Hester konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Sie war zu müde und zu sehr um Enid besorgt, um die Geduld aufbringen zu können, mit irgend jemandem zu streiten, vor allem nicht mit einem Lakaien. »Um Himmels willen, stehen Sie nicht da rum, bringen Sie sie nach oben, und zeigen Sie mir, wo ich sauberes Wasser finden kann, ein Nachthemd, Handtücher, Laken und eine Waschschale - genauer gesagt zwei Schalen. Nun beeilen Sie sich doch endlich, Mann!«
    »Ich hole Dingle«, sagte das Stubenmädchen hastig. Und ohne weiter zu erklären, wer diese Person war, drehte sie sich auf dem Absatz um und ging zurück durch die mit grünem Fries ausgeschlagene Tür, ohne diese wieder hinter sich zu schließen. Hester folgte dem Diener eine breite, geschwungene Treppe hinauf und über den Flur zur Tür von Enids Schlafzimmer. Dann öffnete sie sie für ihn, und er ging hinein und legte Enid aufs Bett. Es war ein schönes Zimmer, ganz in Rosa und Grün gehalten, mit chinesischen Blumenstilleben an den Wänden.
    Aber dies war nicht der rechte Zeitpunkt, um sich mit irgend etwas anderem als den notwendigsten Dingen zu beschäftigen, dem Wasserkrug auf der Kommode, der Porzellanschale und zwei Handtüchern.
    »Füllen Sie die Schale mit lauwarmem Wasser«, befahl Hester.
    »Wir haben heißes…«
    »Ich will kein heißes! Ich versuche das Fieber zu senken, nicht, es in die Höhe zu treiben. Und noch eine Schale. Irgendeine, das ist völlig egal. Und bitte machen Sie schnell.«
    Mit einem deutlichen Aufblitzen von Ärger über ihr Benehmen nahm er den Krug, ging aus dem

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