Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
Schneefall nahm ein wenig an Heftigkeit zu; die Farne verwandelten sich in filigrane Geister, die im Dunkeln einen zarten Tanz aufführten. Es war der Anfang von etwas Neuem, Wunderbarem.
Das war der Moment, sich von der Vergangenheit zu lösen. Sie stand auf und ging ins Esszimmer, wo Eves Zeichnungen noch auf der Anrichte lagen. Sie blätterte sie durch, ehe sie zum Telefon griff – manche davon, vor allem die von Rogan O’Neill, wären ohne Zweifel ein kleines Vermögen wert. Und dann sah sie das Schachspiel. Sie nahm den schwarzen König und die weiße Dame – Douglas und Lynne. Sie rollte sie zwischen ihren Händen und dachte ganz fest an ihren Wunsch, bevor sie die Figuren zusammen auf das Brett zurückstellte, und zwar so aneinandergelehnt, als würden sie sich küssen.
Sie lächelte versonnen, und vor lauter Vorfreude bekam sie Bauchschmerzen. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr – die Zeit blieb nicht stehen. Eine Minute in der Küche, und der Rest des Earl Grey war im Spülbecken verschwunden. Sie hatte die Tasse gespült und wieder in den Schrank gestellt. Sie stieg über Eve hinweg und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie holte den Pastellkasten hervor, entfernte den oberen Einsatz und nahm die Tüte mit dem weißen Pulver heraus, dessen gelber Totenkopf-Aufkleber jetzt zerknittert und zusammengefaltet war. Die Tüte und die Perücke steckte sie in eine braune Papiertüte und dann in ihre Handtasche. Die brauchten nicht hier herumliegen, falls die Polizei herumschnüffelte oder eine Durchsuchung vornahm. Für die wäre Eve sicherlich nur ein weiteres Opfer des Giftmischers, mehr nicht.
Doch dem Giftmischer hatte man selbst Gift gemischt.
Der Giftmischer war in seine eigene Grube gefallen.
Sie holte tief Luft und wollte sich das Telefon holen, als ihr Squidgy auf der Anrichte auffiel, wo er mit dem runden purpurnen Bauch am Hörer lehnte. Lynne konnte sich nicht erinnern, ihn zuvor dort gesehen zu haben. Die Mücke starrte sie aus schwarzen leblosen Augen vorwurfsvoll an. Lynne spürte einen Luftzug, der ihr um die Füße strich, und sie schauderte.
Anderson drückte seinen Sohn an sich, wiegte ihn in den Armen und atmete den zarten Duft von Apfelshampoo aus Peters Haar ein. Er vergrub die Nase tief in seinen Hals und küsste ihn wieder und wieder. Das Gefühl der Erleichterung war unerträglich.
»Aber warum bist du hier, Peter? Warum bist du deiner Mutter weggelaufen?« Colin fühlte Peters Hände, die waren erfroren. Die Nase – erfroren. Abgesehen davon war er unverletzt.
»Ich bin nicht weggelaufen, Daddy. Das würde ich doch niemals tun«, schniefte Peter. »Ich habe nach ihr gerufen, aber sie ist weitergegangen.« Er rieb sich mit dem Daumen den Schlaf aus den Augen.
»Und warum bist du hierhergekommen?«
»Ich wollte Tante Helena besuchen. Und meinen Goldfisch.«
»Du weißt doch, sie ist im Krankenhaus, weil es ihr nicht gut geht.«
»Claire war auch im Krankenhaus, ist aber gleich wieder nach Hause gekommen. Warum ist Tante Helena nicht heimgekommen?«
»Weil …«
Peter wischte sich die Nase mit dem feuchten Ärmel. »Ich habe gewartet und gewartet, aber sie ist nicht gekommen. Und mir ist so kalt geworden. Darum bin ich in den Keller gegangen und habe weiter gewartet.«
»Und warum bist du nicht herausgekommen?«
»Wollte ich ja, Daddy, doch die Tür ließ sich nicht bewegen. Guck mal, ich habe einen Splitter.«
Colin nahm die Hand. Das kalte kleine Patschehändchen, auf dem ein schwarzer Schatten in der Haut zu sehen war, wirkte an der Stelle rot und entzündet. »Na, da sollten wir mal schnell ins Krankenhaus gehen und dir ein Pflaster holen.«
»Tante Helena ist ins Krankenhaus gegangen und nicht zurückgekommen. Ich gehe da nicht rein.«
»Das ist nur, weil sie dableiben muss, damit man sich um sie kümmert. Um dich und um Claire kümmern sich Mummy und ich.«
»Tante Helena hat niemanden, der sich um sie kümmert«, sagte Peter und drückte auf den Splitter, bis ein Tropfen Blut hervortrat. »Und du hast dich auch nicht um mich gekümmert, du bist überhaupt nicht gekommen, um mich zu holen.«
Anderson fehlten die Worte. »Warum wolltest du Tante Helena eigentlich besuchen?«
»Weil sie mir zugeschaut hat, wie ich Puff spiele. Am Ende ist sie aufgestanden und hat geklatscht – so.« Er befreite seine Arme und versuchte zu klatschen, bis er sich an den verletzten Daumen erinnerte. »Sie fand, ich war der Beste.«
»Peter, hättest du nicht auf der Straße
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