Sein letzter Burgunder
Mentalität der Menschen? Hundert Punkte geben Sicherheit, mit so einem Wein kann man bei seinen Freunden punkten, aber nicht mit dem eigenen Geschmack, mein Freund. Die Masse macht’s, damit kann man Geld verdienen, darauf kommt es an. Gerechtigkeit? Im Kapitalismus? Dafür ist er nicht da. Wenn dich das alles stört, dann fahr nicht nach Baden-Baden. Kümmer dich darum, wer Isabella bedroht.«
Daniels Argumente waren stichhaltig. Scheute sich Henry deshalb, ihm zu sagen, dass er mit Amber ein Interview vereinbart hatte? Er wollte diesen Mann persönlich erleben, er musste ihn fühlen, um mehr zu wissen. So ging es ihm mit vielem, er musste nachsehen und eintauchen, sich Gewissheit verschaffen. Alan Amber polarisierte, an ihm schieden sich die Geister, die einen hassten ihn, hielten ihn für korrupt, die anderen hielten ihn für einen der größten Weinkenner und liebten oder bewunderten ihn. Seine Bewertungen hatten Winzer reich gemacht und andere ins Elend gestürzt.
»Es ist die Macht, die ich an ihm verabscheue«, sagte Henry nach einer Weile.
Sein Freund blickte ihn an. »Ah, jetzt verstehe ich dich wieder, das mit der Macht leuchtet mir ein, da hast du michan deiner Seite. Ja, sie brauchen immer einen Führer. Und was ist in dem Zusammenhang mit Deutschland? War die Reise durch Andalusien ein Vorgeschmack auf das, was dich da erwartet?«
Die Antwort fiel Henry nicht leicht. »Ein Vorgeschmack, sagtest du?« Er setzte sich auf, zog Schuhe und Socken aus, schob die Füße so tief in den Sand, bis es kühl wurde, und häufelte ihn mit den Händen darüber.
»Das kann man so nicht sagen, kein Vorgeschmack auf Deutschland, mehr einer auf die Baden-Baden Wine Challenge. Deutschland ist anders geworden, es hat sich verändert, die Menschen haben sich zum Teil verändert. Und wir haben etwas gehabt, worauf ihr noch wartet …«
»Da bin ich aber mal gespannt, was jetzt kommt.«
»Wir haben eine Kulturrevolution gehabt, an der ihr euch vorbeigeschlichen habt, klammheimlich, immer noch den Diktator und seine Spießgesellen im Nacken. Eure Vergangenheit habt ihr kaum aufgearbeitet, den Bürgerkrieg.«
»An mir hat’s nicht gelegen, aber bei eurer Xenophobie …«
»Die ist auch nicht schlimmer als anderswo. Neonazis und Idioten, die Hakenkreuze bewundern, gibt’s auch hier zur Genüge. Xenophobie heißt eigentlich Fremdenangst und nicht Fremdenhass. Erst aus der Angst, gepaart mit Dummheit, wird der Hass. Unordnung und Verbrechen bringen immer die Ausländer mit. Im Inneren gibt’s das nicht. Das eigene Haus ist sauber.«
»Da spricht der Regierungsberater und Soziologieprofessor Dr. Klugscheiß.«
»Ihr habt was gegen die Rumänen, die ihr zu Hunderttausenden ins Land geholt habt, damit sie eure Weinberge pflügen, möglichst billig, die Marokkaner braucht ihr für die Plastikplantagen an der Costa del Sol …«
»In meiner Werkstatt arbeitet kein Rumäne.«
»Dann sag zu mir auch nicht
ihr
, wenn du die Deutschenmeinst. Die lassen sich immer weniger über einen Kamm scheren. Erstens gibt es die regionalen Unterschiede, dann die menschlichen, die sozialen und die Klassenunterschiede …«
»Noch immer Marxist?«
»Nein, Realist! Und für einen gewissen Grad an Fremdenfeindlichkeit habe ich zwar kein Verständnis, aber ich weiß, wie sie entsteht. Wenn ich daran denke, wie es uns damals in Deutschland ging, als meine Großeltern nach Mainz kamen. Meine Mutter war knapp zwanzig, sie hat glücklicherweise Herrn Meyenbeeker geheiratet, sonst wären wir in den Kreisen spanischer Immigranten stecken geblieben. Zu Hause gab es oft Krach, weil mein Vater sich weigerte, Spanisch zu sprechen, und meine Mutter zu bequem war, richtig Deutsch zu lernen. Deshalb wuchs ich zweisprachig auf. Einen deutlichen Akzent hat sie noch heute.«
»Dafür sprichst du unsere Sprache fehlerfrei …«
»Was denn nun – euer Spanisch oder dein Catalán?«
»Über Letzteres reden wir besser nicht, aber du sprichst es so schlecht, weil du dich dagegen wehrst, genau wie deine Mutter.«
»
Exactamente
, genau richtig. Und wenn man als Immigrant immer von der Rückkehr in die Heimat träumt, warum soll man die Sprache lernen?«
»Ich wusste nicht, dass du nach Deutschland zurückwillst.«
»Mein Zuhause ist Isabella – und ihre Familie, La Rioja«, fügte Henry leise hinzu. »Ich identifiziere mich nicht mit einem Land, einem Staat. Und das ist gut so. Das ist das Schöne an der Weinwelt: Sie ist
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