Sein letzter Burgunder
fährst …«
»Da bin ich aber gespannt.« Henry begann sich zu ärgern. Sollte er seine Proben besser einpacken und verschwinden? »Ich habe mich nicht angeboten, sondern bin eingeladen worden und will die Gelegenheit nutzen, Alan Amber zu treffen …«
»Stimmt, ich habe gelesen, dass er sich dazu herablässt. Das ist auch einer von den selbst ernannten Rating-Spezialisten und Sommelier-Weltmeistern, die ungefragt oder für Geld ihre Meinung zum Besten geben. Jeden Tag erfinden die Gazetten und Werbeagenturen neue. Und ihr Juroren kriegt alle Amber-Punkte auf die Stirn geklebt, damit ihr wisst, was ihr wert seid.«
»Seine Zeitung wird immerhin freiwillig gekauft …«
»Was ist in einer manipulativen Gesellschaft noch freiwillig? Hier weiß doch keiner mehr, was abgeht.«
»Du hättest Lehrer bleiben sollen, Meier …«
Der Weinhändler ging nicht darauf ein. »Gestern wollte ein Kunde einen Wein, den Amber im letzten Jahr mit zweiundneunzig von hundert Punkten bewertet hat. Ich sage, er kann ihn probieren. Nein, das sei nicht nötig, sagt er, er will sechzig Flaschen, ich soll sie ihm in den Kofferraum legen. Vierhundertachtzig Euro sind ein gutes Geschäft für mich, aber als ich wieder in den Laden zurückging, war ich frustriert. Ich bin als Berater überflüssig, auf meine Empfehlung wird nicht mehr gehört. Soll ich einen Supermarkt aufmachen? Die Kunden sehen nur die Punktzahlen, aber was der Hohepriester des Weins schreibt, seine Notizen, die liest niemand mehr. Zahlen sind sein Dogma, darauf können sich die Leute einstellen, aber nicht mehr auf Begriffe. Ich glaube, dieser Wettbewerb dient nur der eigenen Profilie rung und dem Geldmachen. Einhundertvierzig Euro kostetes, einen einzigen Wein bewerten zu lassen. Sogar ich als Händler kann ihn einreichen, dazu muss ich vier Flaschen liefern, der Papierkrieg, chemische Analysen und Expertisen, die angefordert werden …«
Henry sah sich genötigt, die Verteidigung zu übernehmen, obwohl er den Hintergrund kaum beurteilen konnte. »Daran siehst du, wie ernst es den Veranstaltern ist.«
»So kann man es auch sehen – oder drehen, mein Freund. Nichts gegen dich … und deine Teilnahme an der Challenge, es wird bestimmt interessant. Erzähl mir hinterher, wie es gelaufen ist. Oder schreib einen Newsletter darüber.«
Frustriert wie selten verließ Henry das Geschäft in der Innenstadt, obwohl Meier sowohl die Lagar-Weine wie die Top-Linie von Peñasco bestellen wollte, versuchsweise. Trotzdem war Henry genervt. Er fühlte sich persönlich angegriffen und spürte etwas wie ein allgemeines Misstrauen. Es war überall, seit er in Frankfurt aus dem Flugzeug gestiegen war, ein gegenseitiges sich Belauern, eine feindselige Stimmung, bei der sich jeder vom Neben- oder Hintermann überfahren fühlte, und sei es nur vom Einkaufswagen im Duty-Free-Shop.
Das Rheinufer half ihm immer, sich abzureagieren. Henry setzte sich ins Gras, atmete tief und betrachtete den Strom. Er versuchte, nach dem Gespräch auf andere Gedanken zu kommen, denn in dieser Verfassung wollte er Dorothea nicht unter die Augen treten.
Doch bei ihr, die er zwei Jahre lang nicht gesehen und auf die er sich gefreut hatte, bekam er den nächsten Dämpfer. Dorothea sah schlecht aus, sie war dünn geworden, wirkte müde und angestrengt. Und was sie zu seiner Teilnahme an der Baden-Baden Wine Challenge sagte, hob seine Laune nicht.
Dorothea führte kein einfaches Leben, das aber ihrem positiven Wesen und ihrem Sinn für Humor eigentlichkeinen Abbruch tat. Sie hatte eine schöne Wohnung im Stadtteil Zahlbach, in der Nähe der Gutenberg-Universität. Daran war sie über eine Erbschaft gekommen, die schönen Möbel stammten noch aus der Zeit ihrer Festanstellung. Aber dann war das Walross Harald Winter, ein Schleimer und Anpasser, zum Chefredakteur ernannt worden, und ein halbes Jahr später hatte Dorothea die unsichere Existenz der freien Journalistin einer dauernden Bevormundung durch den Karrieristen vorgezogen. Seitdem rannte sie hinter jedem noch so kleinen Auftrag her und putzte in den Food- und Lifestyle-Redaktionen die Klinken. Henry hatte sie nach Barcelona und La Rioja eingeladen. Zu seinem Glück waren sie und Isabella sich sympathisch gewesen, andernfalls wäre seine Freundschaft zu Dorothea problematisch geworden. Sie war einer der Menschen, bei denen sich nach Jahren der Trennung das alte Vertrauen sofort wiederherstellte. Henry kam es vor, als wären sie
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