Sein letzter Burgunder
zu. In diesem Moment sah er den Haarschopf von Antonia Vanzetti in der zweiten Reihe. Leider war weder rechts noch links des Gespanns Gatow/Vanzetti ein Platz frei, so quetschte er sich weiter hinten durch die Reihe.
Er setzte sich neben Beatrix Stöckli, die Weinhändlerin aus Winterthur, und es entspann sich ein nettes Gespräch über die spanischen Weine, die sie in ihrem Laden vertrieb. Dazu gehörten auch die von Peñasco. Gerade als Beatrix Stöckli sich über Henrys Unwissen über Schweizer Weine empören wollte, erlosch das Licht. Die Musik schwoll an und wechselte von diskreter Klassik zur römischen Fanfare. Die Gladiatoren marschierten ein,
morituri te salutant
– die Todgeweihten grüßen dich, dachte Henry.
Arm in Arm wie gute alte Freunde, die sich weltvergessen in einem Gespräch befanden, bewegten sich Verlagschef Heckler und Alan Amber im Lichtkegel des Scheinwerfers. Beide gingen durch den Mittelgang auf die Bühne zu. Einzelne Zuschauer standen auf, hier und dort hörte man Beifall, den Amber huldvoll winkend erwiderte, und Heckler spielte den Gönner: Seht her, was ich euch bieten kann, verehrte Juroren meines Wettbewerbs.
»Er hat fähige Marketingleute«, flüsterte Henry seiner Nachbarin zu.
»Dafür hat man eine Event-Agentur, oder?«, entgegnete sie. »Amber ist alt geworden, finden Sie nicht? Oder sie publizieren immer nur Fotos, auf denen er zehn Jahre jünger aussieht – mit dem Photoshop-Programm geht das – oder?«
Amber war deutlich älter geworden, das empfand auch Henry so. Er hatte den Zenit seiner Macht, vielmehr seiner Bedeutung, überschritten. Sein Haar ist gefärbt, sein Reich bröckelt, sein Wille geschieht nicht mehr, dachte er, sein Wort hat längst nicht mehr das Gewicht wie früher, die Zeit geht über ihn hinweg.
»Er ist ein Mann, der von dem lebt, was gewesen ist, und doch gehört er noch dazu«, sagte er.
»Man hat schon vieles von ihm gehört, Gutes wie Schlechtes, Nachteiliges und Vorteilhaftes, nur leider habe ich ihn selbst noch nie reden gehört«, sagte Beatrix Stöckli. »Deshalb freue ich mich, dass er da ist. Sie auch – oder? Wäre das nichts für Sie, mit ihm ein Interview zu machen? So eine Gelegenheit ergibt sich so bald nicht wieder.«
»Genau das habe ich vor«, sagte Henry und stand wie viele andere auf, nicht als Hommage, sondern um einen besseren Blick auf den Mann zu bekommen.
»Die Frau hinter ihm, ist das seine Gattin oder seine Krankenschwester?« Die kleine Beatrix Stöckli hielt sich, von der eigenen Keckheit erschrocken, die Hand vor den Mund.
»Seine Sekretärin, nehme ich an, sie trägt ihm die Aktentasche.«
Auch Amber war kleiner, als Henry ihn sich vorgestellt hatte, er hatte weniger Haar als auf den offiziellen Fotos, und er war dicker, als er hätte sein sollen. Einhundertfünfzig Weine am Tag gingen an keinem spurlos vorbei, wie viel man auch ausspuckte. Henry schauderte bei dem Gedanken, die fünfzig, die ihnen pro Tag hier bevorstanden, würde er gerade noch verkraften. Da probierte er auf Weinmessen mehr, und oft reichte der Geruch, um sie durchfallen zu lassen. Er würde Frank fragen, was die Fotografen taten, um Leute vorteilhaft erscheinen zu lassen. Wahrscheinlich musste jedes Bild von Amber autorisiert werden, ähnlich wie seine Interviews. Das war Teil der Abmachung, die Henry mit Ambers Büro getroffen hatte. Ihn störte es nicht, er würde das Interview mehr für sich selbst führen als für die Leser seines Newsletter. Und die gestrichenen Antworten ließen sich umschreiben und in einen Kommentar verwerten. Vor Ambers Rechtsanwälten fürchtete er sich nicht.
Als der Weinguru auf gleicher Höhe war, blickte er in HenrysRichtung, und ihre Augen trafen sich. Ambers Lächeln wirkte desinteressiert, ein Mann der mit allen Wassern – oder Weinen – gewaschen war. Dieser Eindruck verfestigte sich, und Henry merkte, dass seine Ablehnung zunahm. Verlagschef Heckler wirkte stärker, bärbeißiger, bullig und gesünder. Er war auch nicht groß und nicht schlank, aber agiler, ein getriebener Geschäftsmann, auf der Suche nach seinem Vorteil, und er war jünger. Amber hingegen wirkte gesetzt und hatte etwas Präsidiales an sich. In puncto Eigendünkel nahmen sich beide wenig, sie waren Beifall gewohnt, der alsbald abebbte und längst nicht von allen geteilt wurde. Hier waren viele Frauen und Männer versammelt, die in ihrem Leben einiges auf die Beine gestellt oder leitende Positionen erreicht hatten.
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