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Sein letzter Fall - Fallet G

Sein letzter Fall - Fallet G

Titel: Sein letzter Fall - Fallet G Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Nesser
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seiner mehr als dreißigjährigen Polizeiarbeit könnte trotz allem noch eine bisher nicht gesungene Strophe haben – eine Ahnung, die er niemals am Leben erhalten könnte, wenn er anfangen würde, genauer hinzuschauen, Worte zusammenzufügen und festzulegen.
    Vorsicht!, dachte er. Mach dir keine Illusionen, Buchhändler!
    Er stand auf und ließ die Türjalousie herunter. Kehrte zurück in den Hinterraum zu dem Sessel. Holte die Portweinflasche und das Glas hinter Schiller und Klopstock hervor und goss sich bis zum Rand ein. Setzte sich zurecht und zündete die Zigarette an, die er während seines Gesprächs mit Belle Vargas gedreht, aber nicht angezündet hatte – und wie auf Bestellung tauchte das alte Bild aus der Turnhalle vor seiner inneren Netzhaut auf, sobald er die Augen geschlossen hatte und wehrlos geworden war.
    Diese eingefrorene Szene aus der Halle mit Adam Bronstein in der stinkenden Matte – und dann noch eine, ein paar Minuten später. Ein teuflischer Moment.
    Als… als sie bereits auf dem Weg nach draußen waren. Als G. die Turnhallentür geschlossen und den Rückzug angeordnet hatte, und als er selbst die Eingebung hatte, wie er Adam das Leben retten könnte. Er blieb auf dem Schulhof stehen und tat so, als hätte sich ein Schnürband gelöst und müsste neu geknotet werden. Hockte sich in dem roten und gelben Herbstlaub neben einem der Fahrradständer nieder und simulierte so eine Art Bindeprozedur – und es lief genau, wie er erhofft hatte: G. blieb nicht stehen, um auf ihn zu warten, warf ihm nur einen kurzen Blick zu und ging mit den anderen weiter zum Schultor. Und dann traut er sich plötzlich doch nicht. Statt hocken zu bleiben und G. und seine Kameraden durch das dunkle Tor gehen zu lassen, um dann wieder zur Turnhalle zurückzukehren – statt dieser selbstverständlichen Tat richtet er sich auf und läuft den anderen hinterher.
    Schließlich ist ja nicht er derjenige, der Adam Bronstein in die Matte eingerollt hat.
    Es ist nicht dafür verantwortlich.
    Er ist nicht…
    Er öffnete die Augen, und das Bild verschwand.
    Hasse ich ihn deshalb?, dachte er. Weil er mich geprüft und zum Mitschuldigen gemacht hat? Zum ersten Mal mitschuldig. Vor fünfzig Jahren.
    Er schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach sechs… und plötzlich fiel ihm ein, dass sie Gäste haben sollten, zwei von Ulrikes Kindern, seine eigene Enkeltochter Andrea und ihre Mutter. Ulrike hatte eine Paella geplant und brauchte zweifellos seine Hilfe am Herd.
    Er fühlte, dass er sich nach ihr sehnte, danach, mit ihr in der Küche zu stehen und das Essen vorzubereiten, jeder mit seinem Glas Chianti in der Hand und dem Duft des Brotes, das im Ofen backte. Eine starke Sehnsucht.
    Mein Gott, dachte er. Ich bin fünfundsechzig Jahre alt und verliebt wie ein Teenager.
    Er stand auf und verließ das Antiquariat.
    Spät am Abend rief er Münster an. Er hatte seit mehreren Monaten nicht mehr mit ihm – oder mit einem anderen seiner alten Kollegen – gesprochen, und er fühlte sich fast wie ein Eindringling. Es war sonderbar, aber so war es nun einmal.
    Wie sich herausstellte, hatte Münster über Verlangen keine weiteren Informationen als die, die Van Veeteren bereits von Belle Vargas erhalten hatte. Man hatte am vergangenen Tag eine Suchmeldung herausgegeben, aber bis jetzt – nach etwas mehr als vierundzwanzig Stunden – waren noch keine Hinweise eingegangen. Sie vereinbarten, sich in ein paar Tagen zu treffen und die Sache zu diskutieren. Wenn etwas von Bedeutung einträfe, versprach der Kommissar, dem
Hauptkommissar
das umgehend mitzuteilen.
    Münster sprach das Wort nie aus, aber Van Veeteren hörte dennoch – sehr deutlich – dass es ihm auf der Zungenspitze lag.
Der Hauptkommissar.
    Im Herbst würde ich in Pension gehen, wenn ich geblieben wäre, dachte er. Vielleicht soll es ja so sein, dass ich auf jeden Fall noch eine Runde mit G. drehe. Vielleicht hatte der Regisseur es sich genau so gedacht?
    War das möglich? Der Regisseur?
    Er schüttelte den Kopf und versuchte, den Gedanken mit einem Schluck Chianti hinunterzuspülen.
    Aber er blieb hartnäckig an Ort und Stelle sitzen.

28
    Es war ein halbes Jahr vergangen, seit er Münster das letzte Mal getroffen hatte – und zehn Monate, seit sie Badminton miteinander gespielt hatten –, und es wurde ein überraschend denkwürdiges Treffen.
    Der Kommissar hatte noch am selben Morgen mit Grippe krank im Bett gelegen (38,3 Grad Fieber am vergangenen Abend) und war bleich wie

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