Sein letzter Fall - Fallet G
hat. Nicht nur meinen Vater.«
Verfolgt?, überlegte er. Das Wort ist wohl etwas zu stark dafür.
»Auf jeden Fall ist es mir nicht gelungen, es voll und ganz zu vergessen«, gab er zu.
Sobald er die Wohnung in der Heerbanerstraat betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, war er bereit, Belle Vargas’ Einschätzung zu unterschreiben.
Maarten Verlangens Heim war kein schöner Anblick.
Der Flur war zwei Quadratmeter groß und mit ein paar ausgebreiteten Tageszeitungen auf dem Boden, einer dreibeinigen Mahagonikommode und einem gesprungenen Spiegel möbliert. Die Küche lag gleich rechts, und deren Einrichtung war klassisch einfach: ein Küchentisch mit Resopalscheibe ohne Tischdecke, zwei Holzstühle und ungefähr zweihundert leere Flaschen. Letztere lagen kreuz und quer – in Bierkästen auf dem Boden, auf dem Tisch, auf der Spüle, oben auf dem klapprigen, ziemlich laut brummenden Kühlschrank… Er beschloss, ihn um alles in der Welt nicht zu öffnen.
Das Schlafzimmer lag links. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber ein schmutziges Dämmerlicht sickerte dennoch herein, da ein paar der Lamellen kaputt waren. Er konnte ein ungemachtes Bett und einen Nachttisch ausmachen, eine mausetote Topfpflanze auf einem Sockel und einen Berg unsortierter Kleider, die wahrscheinlich irgendein Sitzmöbel verbargen.
Im Wohnzimmer gab es eine Art von Einrichtung. Ein schiefes Bücherregal mit Vitrine, einen Tisch, ein Cordsofa und einen Sessel. Einen Fernseher und eine Stereoanlage. Beide so verstaubt, dass sie fast schimmlig aussahen. Ein moderner Schreibtisch aus hellem Holz mit einem Stuhl auf Rädern. An zwei Wänden hingen an den Rändern eingerissene Van-Gogh-Reproduktionen. Die dritte wurde von einem riesigen Ölgemälde in diesigem Grün bedeckt, und die vierte bestand aus einem bleichen Fenster und einer krankhaft blassen Tür, die hinaus auf einen winzigen Balkon mit Blick auf ein Parkhaus führte. Zeitungen und Zeitschriften lagen überall verstreut herum, nur auf dem Schreibtisch konnte man einen Ansatz von Ordnung in all dem Chaos erkennen. Mit ein wenig gutem Willen. Dort stand ein Telefon, ein graues Metallregal mit schmalen horizontalen Fächern für Rechnungen und andere wichtige Dokumente auf dem dornenbestreuten Weg des Lebens – sowie ein aufgeschlagener Spiralblock (derselbe, aus dem er die Seite mit der Zugzeit und der Zeile über G. herausgerissen hatte, wie Van Veeteren vermutete). Ein paar hingekritzelte Lottoreihen zeugten davon, dass es auch bei Maarten Verlangen die Hoffnung auf eine Zukunft gab. Oder zumindest
gegeben hatte.
Aber wie gesagt, ein schöner Anblick war es nicht.
Und leider auch nichts für den Geruchssinn. Das Odeur war ziemlich greifbar, wie Van Veeteren notierte. Ein süßlich-saurer Geruch nach alten Essensresten, alter, ungewaschener Kleidung, altem, schmutzigem Boden und altem Mann. Und zwar überall. Und ein verschimmeltes Badezimmer, in das er nur einen kurzen Blick warf, um festzustellen, dass die Beleuchtung kaputt war.
Er blieb im Wohnzimmer stehen und kämpfte mit sich selbst.
Verdammte Scheiße, dachte er. Ich sollte, aber ich will nicht, was habe ich hier zu suchen?
Hatte er wirklich geglaubt, dass er in der Lage sein würde, in diesem widerlichen Abfallhaufen herumzuwühlen?
Wenn zwei Kriminalbeamte dafür sechs Stunden geopfert und nichts gefunden hatten, was als ein Hinweis angesehen werden konnte – wie viele Stunden brauchte dann ein halb versteinerter Buchhändler, um etwas zu finden?
Er schüttelte den Kopf über diese Fragestellung. Zündete sich eine Zigarette an und drehte noch eine Runde durch die Wohnung.
Anschließend gab er auf und fuhr heim.
Früher einmal war ich Kriminalkommissar, dachte er. Damals.
Am Abend ging er mit Ulrike ins Kino. Sie sahen sich zwei von Kieslowskis Dekalogfilmen an, und er fragte sich die ganze Zeit, wie zum Teufel es möglich war, etwas so hundertprozentig Echtes mit so minimalen Ressourcen zu Stande zu bringen. Das reine Wunder!, erklärte er Ulrike, während sie langsam zu Fuß an der Langgraacht entlang nach Hause gingen, und sie stimmte ihm zu. Wenn wir das Leben durch eine Kieslowskikamera sehen könnten, meinte sie, ja, dann würden wir vielleicht eines schönen Tages sogar so einiges begreifen.
Später, irgendwann nach Mitternacht, als dieses Wunderwerk von Frau eingeschlafen war, spürte er, dass ihm die Bilder dieses düsteren Wohnviertels in Warschau immer noch nachhingen und dass sie es
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