Seine einzige Versuchung
weil er ungestüme Leidenschaft darin sah. Sie war eindeutig kein Kind mehr, auch wenn ihr Körper eine mädchenhafte Zartheit besaß und ihr Eigensinn offenbar ebenso ausgeprägt wie früher war.
„Vielleicht sollten Sie sich das mit dem Heiraten lieber doch nochmal überlegen, Benthin. Dann bleibt Ihnen auch der Ärger mit dem Nachwuchs erspart“, unterbrach der Professor kopfschüttelnd die Gedanken seines ehemaligen Studenten. Dieser fühlte sich unbehaglich und war peinlich berührt. Er hatte die Tochter seines langjährigen väterlichen Freundes - wenn auch nur für einen kurzen Moment - mit den begehrlichen Blicken eines Mannes angesehen, der keineswegs väterlich geprägte Gefühle hegte. Verlegen richtete Benthin seinen Blick auf den Boden.
„Kopf hoch, Benthin - das wird schon! Es werden ja nicht alle so aufsässig wie meine Älteste! Lassen Sie uns zum Haus zurückgehen. Bleiben Sie zum Abendessen?"
„Eigentlich nicht, ich..." Enttäuscht schüttelte der Professor den Kopf: „Papperlapapp, Benthin, Sie sind viel zu selten unser Gast, da werde ich Sie nicht jetzt schon wieder gehen lassen! Keine Diskussion - Sie bleiben!" Dem konnte sein ehemaliger Student nichts entgegen setzen, auch wenn ihm etwas unwohl zumute war bei dem Gedanken, Elli beim Abendessen möglicherweise noch einmal zu begegnen. Doch seine Sorge war unbegründet. Elli war immer noch zornig, fror durch ihr unfreiwilliges Bad und weigerte sich, mit der Familie und dem Gast gemeinsam zu Abend zu essen, was ihre Mutter mit einem bedauernden Schulterzucken beim Eintreten in das Speisezimmer mitteilte.
Elli war wie so oft alleine auf den See hinaus gerudert. Im Gegensatz zu früher gingen ihr ihre überaus anhänglichen jüngeren Schwestern in letzter Zeit zunehmend auf die Nerven. Andauernd kicherten und gackerten sie wie zwei Hühner und schienen in ihren Gedanken und Gesprächen nur um männliche Bekanntschaften, Heiratskandidaten und schon verheiratete Freundinnen zu kreisen. Dabei war sie die Älteste, doch vermied sie es, sich zu diesem leidigen Thema auszulassen. Auch sie spürte sehr wohl Veränderungen und Sehnsüchte in sich, die sie jedoch lieber mit sich selber ausmachen wollte und nicht - wie ihre Schwestern - an die große Glocke hängen mochte. Das frühere, häufige Zusammensein mit ihrem gleichaltrigen Vetter hatte seine Unschuld längst verloren, als sie von ihm erfuhr, dass er mit einem Bauernmädchen in einer Scheune etwas sehr Unanständiges getan hatte, wie er sich geheimnisvoll ausdrückte. Er weigerte sich partout, Ellis drängende Fragen nach dem genauen Inhalt des Unanständigen zu beantworten. Ihr war klar, dass es sich um eine Art von körperlicher Annäherung der beiden gehandelt haben musste, war aber nicht genau im Bilde, was genau sich bei solchen Begegnungen abspielte. Dieses Thema war ein gesellschaftliches Tabu. Junge Männer durften sich die Hörner abstoßen, wie es so schön hieß. Dagegen erfuhren viele junge Frauen erst in der Hochzeitsnacht mehr und gingen oftmals körperlich traumatisiert in die Ehe. Auch Literatur zu dem Thema stand kaum zur Verfügung und wurde streng vor den jungen Mädchen im Verborgenen gehalten, sofern derartige Bücher überhaupt in einem Haushalt vorhanden waren. Elli war enttäuscht, dass ihr Vetter sich weigerte, sie trotz ihres sonst so vertrauten Umgangs einzuweihen. Stattdessen neckte er sie und ließ sie neugierig zurück mit einem wissenden Grinsen, so dass sie sich wie ein naives Kleinkind vorkam. Sie fühlte sich ausgeschlossen. Gekränkt hatte sie sich zurückgezogen.
Die Fahrten mit dem Boot waren Ellis einzige Möglichkeit, aus den einengenden Regeln und gesellschaftlichen Verpflichtungen auszubrechen. Dort fühlte sie sich wie auf einer fernen Insel - unerreichbar für die anderen und frei. Hier konnte sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen und träumen. Die Ermahnungen ihrer Mutter überhörte sie regelmäßig. Diese richtete ihr ganzes Denken und Handeln auf die herrschenden gesellschaftlichen Konventionen aus und lebte in einer völlig anderen Welt. Elli konnte sich nicht vorstellen, jemals so zu werden. Ihre Eltern waren herzensgut, aber aus Ellis Sicht nicht wirklich frei, sondern gefangen in gesellschaftlichen Zwängen. Entsprechend der Stellung des Vaters gehörte Ellis Familie zum gehobenen Bildungsbürgertum. Dank einer unverhofften Erbschaft war die Familie seinerzeit zu Wohlstand gekommen und somit anerkannt in der höheren Gesellschaft. Sie
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