Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
variablem Datum, zum Beispiel der
gleiche Zeitpunkt an drei aufeinanderfolgenden Donnerstagen. Dann gehe ich zum
vereinbarten Ort und warte 20, 30 Minuten. Wenn »Maria« nicht kommt, betrachte ich das
Treffen als um eine Woche verschoben. Es ist immer gut gegangen, weil wir
telefonische Kontakte vermieden und unverdächtige Orte ausgewählt haben:
Wohnungen oder Büros, in denen wir allein sein konnten. Die Dokumente wurden
meist in Verstecken hinterlegt, die aus Spionagethrillern als »tote Briefkästen«
bekannt sind, was an den Jargon der Geheimdienste während des Kalten Krieges
erinnert.
Eines Tages jedoch erscheint »Maria« mit leeren Händen. Mein
Informant bemerkt meinen enttäuschten Blick und sieht mich ironisch an. Ich
denke mir: »Bei all dem Aufwand, den wir betreiben, den Risiken, die wir
eingehen, lächelt er noch?« Doch dann legt er sein Sakko ab. »Hilf mir«, sagt
er. Er dreht sich um: Innen am Rücken hat er 13 Blätter befestigt,
sorgfältig doppelt gefaltet. Er gibt sie mir. Ich falte sie auf und lese. Es
handelt sich um drei schockierende Briefe von Dino Boffo, dem ehemaligen
Chefredakteur der Zeitung Avvenire , der im Sommer 2009
durch eine Kampagne im Il Giornale zum Rücktritt
gezwungen wurde. [1] Nach dem Skandal wandte sich Boffo sowohl an
Benedikt XVI. als auch an den Vorsitzenden der
Italienischen Bischofskonferenz CEI, Kardinal
Bagnasco. Im Kern handelt es sich um einen bislang unveröffentlichten
Briefwechsel zwischen Boffo, dem zuverlässigen Mitarbeiter, ja Freund
Bagnascos, und Georg Gänswein, dem Privatsekretär Benedikts XVI. Es sind Schreiben, in denen Boffo die
Ereignisse darstellt, die Hintergründe beleuchtet, die beteiligten Personen mit
vollständigem Namen nennt, Hypothesen über die Auftraggeber aufstellt und
schließlich auch die Motive beschreibt, aus denen heraus der Rufmord an ihm
verübt worden sei. Er zeichnet das Bild einer regelrechten Verschwörung. Sie
veranlasste den katholischen Journalisten dazu, Staatssekretär Tarcisio
Bertone, den engsten und loyalsten Mitarbeiter des Heiligen Vaters, persönlich
zu beschuldigen, an der Rufmordkampagne beteiligt gewesen zu sein. Boffo ist
durch sie – glaubt man dem, was mir seine Freunde während der Recherche
anvertrauten – beinahe in den Selbstmord getrieben worden.
Man muss diese Briefe sorgfältig lesen. Wenn sich Boffo – was
bei aller Zurückhaltung einem Frontalangriff auf Staatssekretär Bertone
gleichkam – mit der Bitte an Padre Georg wandte, er möge den Papst in
angemessener Form über die Ereignisse informieren, so bedeutete dies nichts
anderes, als dass der ehemalige Chefredakteur des Avvenire zum Gegenschlag ausholte. Das wiederum hieß, dass die Partie auf höchster Ebene
ausgetragen und der bislang nur mit halber Kraft geführte Konflikt zwischen den
Seilschaften im Vatikan in Zukunft mit härteren Bandagen ausgefochten würde.
Die Tatsache, dass Boffo nach seiner kurzen Höllenfahrt bereits im Herbst 2010
rehabilitiert wurde, indem man ihn zum Chef des Fernsehsenders Tv2000, einer Mediengesellschaft im Besitz der
Italienischen Bischofskonferenz, ernannte, kann nur sehr bedingt als guter
Ausgang einer traurigen Geschichte gelten. Vielmehr handelt es sich um einen
Kompromiss im typischen Stil des Vatikans. Die Angelegenheit richtete enormen
Schaden an, und sie hätte leicht eskalieren können. Es gab weder Feuerpausen
noch einen Waffenstillstand.
Nachdem ein ganzes Jahr lang kaum etwas in der Sache geschieht,
erscheint am 25. Oktober
2011
ein politisches Interview mit Dino Boffo im Corriere della
Sera . Der geschasste Chefredakteur wird rehabilitiert, jede Anspielung
auf die Verschwörung, die inzwischen offiziell ad actagelegt
und dem Vergessen anheimgegeben ist, wird vermieden.
Wenige Tage später, am 12. November, stürzt eine Regierung, die schon seit
Wochen in den letzten Zügen lag. Ministerpräsident Silvio Berlusconi, dessen
Zeit nach allgemeiner Ansicht – insbesondere seit Bekanntwerden der Partys in
seiner Villa im lombardischen Arcore – abgelaufen ist und der mit der Welt des
Katholizismus gebrochen hat, tritt zurück. Die stahlharte Achse, die
Berlusconis Staatssekretär Gianni Letta zwischen Vatikan und Palazzo Chigi
geschmiedet hat, ist nicht mehr unantastbar. Berlusconi räumt seinen
Schreibtisch für Mario Monti, einen »Experten«, der eine der vatikannächsten
Regierungen aller Zeiten bildet: Gleich drei Minister und diverse
Staatssekretäre stehen in enger
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