Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
2. September 2009
gibt Feltri an, die Dokumente vom »vatikanischen Geheimdienst« [5] erhalten zu haben, der jedoch Federico Lombardi zufolge offiziell gar nicht
existiert. Meint Feltri hier möglicherweise die vatikanische Gendarmerie, die
Domenico Giani leitet, ein ehemaliger Agent des italienischen
Nachrichtendienstes SISDE (Servizio per
le Informazioni e la Sicurezza Democratica)? Worte, Gerüchte – aber kein
Beweis. Die von Giuliano Ferrara geleitete Zeitung Il Foglio geht noch einen Schritt weiter: »Dem Foglio ist aus
gut unterrichteter Quelle bekannt, dass Vian mehrfach mit Feltri telefoniert
hat, um das gefälschte Dokument zu authentifizieren.« Vian aber verneint und
dementiert.
Die Überraschung kommt erst einige Monate nach Boffos Rückzug.
Anfang Dezember 2009
berichtet Feltri, das besagte Schriftstück von einer »Persönlichkeit der
Kirche« erhalten zu haben, der man »institutionell vertrauen« müsse. Um wen
handelt es sich? Wohl um eine über jeden Zweifel erhabene, hoch angesehene
Person – immerhin erklärt der Chefredakteur des Il
Giornale , er habe »nicht einen Augenblick lang an ihr gezweifelt, da man
dies schlechterdings nicht konnte«. Diese Stellungnahme provoziert Boffo zu
einer ungewöhnlich direkten und kämpferischen Reaktion. Bis zu diesem Zeitpunkt
hat sich der katholische Journalist eher zurückgehalten: Statt einen Kommentar
abzugeben, versucht er wochenlang mit Engelsgeduld, alle bekannten Puzzleteile
zusammenzufügen, um herauszufinden, wer hinter der Sache steckt. Es ist seine
Verteidigungsstrategie: Er analysiert die Presseberichterstattung und hört sich
bei Freunden und Bekannten aus Politik und Medien um. Der Schlusspunkt der
Angelegenheit, die Veröffentlichung des Dossiers im Il
Giornale , interessiert Boffo dabei nur partiell. Viel mehr drängt es ihn
zu erfahren, wer die ganze Geschichte ins Rollen gebracht hat. Feltris Hinweise
auf eine unverdächtige Person im Vatikan veranlassen Boffo, seine Pläne zu
ändern. Denn was der Chefredakteur des Giornale sagt,
stimmt überraschenderweise mit dem überein, was Boffo selbst bei seinen
Recherchen in den zurückliegenden Wochen herausgefunden hat. Und das sind
schockierende Dinge.
Kurz vor Weihnachten berät sich Boffo daher mit einigen Kardinälen
und beschließt, die Ergebnisse seiner privaten Ermittlungen demjenigen bekannt
zu machen, der endlich die Wahrheit erfahren muss. Die Indizien, die Beweise
und die Anschuldigungen sind so schwerwiegend, dass es nur eine Person gibt,
die davon in Kenntnis gesetzt werden kann – der Papst selbst. Dies muss der
ausschlaggebende Grund dafür gewesen sein, weshalb Boffo sich am Ende nicht an
Bagnasco wendet, sondern an Georg Gänswein. Ihn möchte Boffo über alles
informieren, was er herausgefunden hat, und er will auch, dass die Fakten
festgehalten werden. Deshalb bittet er den Ratzinger-Getreuen nicht um einen
Gesprächstermin, sondern schreibt ihm lieber einen Brief – ein »J’accuse« (Ich
klage an). »Verba volant, scripta manent«(Gesprochenes
vergeht, Geschriebenes besteht). Der ehemalige Chefredakteur des Avvenire nennt dabei jene beim Namen, die er im Vatikan für
die Verantwortlichen hält. Es sind Personen, die der Papst persönlich zu seinen
Mitarbeitern gemacht hat und die sein vollstes Vertrauen genießen.
Boffo an den Papst: »Eure Heiligkeit, hier sind die Schuldigen«
Boffo bereitet den Boden für die Kontaktaufnahme.
Angesichts der prekären Situation und auch, weil sein Verhältnis zu Gänswein
nicht so beschaffen ist, dass er in dieser Angelegenheit ohne Weiteres auf ihn
zugehen kann, wendet sich Boffo zunächst an einen vertrauenswürdigen
Mittelsmann. Durch ihn erfährt der Privatsekretär Benedikts XVI., dass sich der ehemalige Chefredakteur des Avvenire mit der Absicht trage, die heiklen Umstände
seines Abgangs bekannt zu machen. Padre Georg zeigt sich zugänglich, und Boffo
arbeitet seinen Brief sorgfältig aus.
Dann, am 6. Januar
2010,
kurz vor dem Abendessen, zu einer Zeit, zu der sich der Sekretär vermutlich
allein in seinem Büro aufhält, legt der ehemalige Chefredakteur des Avvenire in seinem Landhaus in Onè di Fonte bei Treviso
fünf Blätter in sein Faxgerät. Das Schreiben ist an Gänswein persönlich
gerichtet. Und der Vermerk »riservatissima« (»streng vertraulich«) im Briefkopf
stimmt bereits auf den Charakter des Briefes ein. Es handelt sich um eine
flammende Anklageschrift, die eine vollständige Lektüre verdient und in
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