Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
er abends nicht selten die Haustür halb offen ließ, was mir, etwa wenn ich
spät heimkam, regelmäßig einen Schrecken einjagte. Nun, ich erinnere mich, dass
ich schon nicht mehr dort wohnte, als man mir eines Tages berichtete, dieser
Priester verbreite eindeutige Verdächtigungen gegen mich. Ehrlich gesagt
beunruhigte mich dieser Gedanke nicht weiter, und ich erinnere mich, dass ich
meinem amüsierten Gesprächspartner damals erwiderte, vermutlich habe Pinto den
abendlichen Besuch einiger Kollegen von Sat2000 mit was weiß ich was
verwechselt. Der Fernsehsender war damals gerade in seinen Anfängen, und für
mich war es wichtig, jede Gelegenheit zu nutzen, die Männer und Frauen, die
dort arbeiteten, kennenzulernen. Für mich war die Sache damit erledigt, und ich
muss gestehen, dass ich sie schon fast vergessen hatte.
Das ist alles,
Monsignore. Es schien mir wichtig, angesichts der einzig plausiblen Spur alle
Informationen zusammenzutragen, die mir durch das unglaubliche Gerede wieder
ins Gedächtnis gekommen sind.
Dann geht Boffo zum Angriff auf Vian über und streitet ab,
homosexuell veranlagt zu sein:
Erlauben Sie
mir dennoch anzumerken, dass das Fehlverhalten, dessen sich Vian leider
schuldig gemacht hat, auf einer anderen Ebene liegt. Ihm fällt ein anonymes,
offensichtlich gefälschtes Schreiben in die Hände (auf welchem amtlichen
Schriftstück der Republik Italien werden bei einer Anklage gegen einen Fünfzigjährigen
die Vor- und Zunamen der betagten Eltern genannt?), das noch dazu
verleumderischen Charakters ist (in den Akten aus Terni gibt es keinen Hinweis,
der mit dem Vorwurf der Homosexualität in Verbindung gebracht werden könnte,
wie selbst Feltri eingestehen musste). Und was tut er? Er nimmt es und reicht
es – er, der Chef des Osservatore
Romano – einem Kollegen
weiter, der für seine Skrupellosigkeit bekannt ist. Er beglaubigt die Echtheit
des Dokuments und stellt in Aussicht, eine öffentliche (und zweckdienliche)
Kampagne gegen den Chefredakteur der katholischen Tageszeitung zu starten. Wo
bleiben da das moralische Empfinden und die kirchliche Gesinnung?
Monsignore, ich
kann Ihnen nicht verhehlen, dass mich etwas an Ihrem überaus freundlichen Anruf
gestern zunächst erstaunt hat. Aber ich versichere Ihnen bei Gott, dass ich
gelassen bin und davon überzeugt, dass sich die Wahrheit auch unter diesen
Umständen durchsetzen wird. Noch einmal sage ich Ihnen: Wäre ich ein
Homosexueller, noch dazu ein notorischer Homosexueller, hätten dann nicht die
Kollegen in den drei Redaktionen, mit denen ich Stunden, Tage und Jahre
verbracht habe, mit denen ich jedes nur erdenkliche Thema diskutiert habe, um
die Positionen der Kirche zu allen aktuellen gesellschaftlichen Fragen in die
Öffentlichkeit zu tragen, nicht bemerken müssen, dass etwas nicht stimmt? Hätte
ich mir dann wirklich bis zum heutigen Tage ihre Wertschätzung bewahren können,
als gläubige Christen und Familienväter? Darüber hinaus, Monsignore, bin ich
kein junger Mann mehr. Wie andere auch, so habe ich in meinem Leben die
verschiedensten Phasen durchlaufen. Von meinem dreißigsten bis zu meinem vierzigsten
Lebensjahr war ich Initiator der wöchentlich erscheinenden Bistumszeitschrift
von Treviso und Vorsitzender einer sehr lebendigen Ortsgruppe der Katholischen
Aktion, die, um ein Beispiel zu nennen, jeden Sommer rund fünfzig Ferienlager
organisiert hat (Sie kennen Lorenzago, das war einer der Standorte unserer
Camps). Ist es denkbar, dass niemand einen Grund gefunden hat, sich über mich
zu beschweren? Zuvor war ich, zwischen meinem 22. und 30. Lebensjahr,
blutjunger »Leiter« (um es so auszudrücken) des nationalen Dachverbands der
Katholischen Aktion (der sich damals in der Via della Conciliazione 1
befand, der Präsident war Professor Agnes). Gemeinsam mit mir wuchsen hier
Dutzende und Aberdutzende anderer junger Leute heran, für die Johannes
Paul II. den WJT [Weltjugendtag] ins Leben rief: Und auch hier stellt sich
die Frage, warum niemand etwas zu beanstanden hatte. In den letzten neun Jahren
in Rom schließlich habe ich in einem kleinen Apartment innerhalb einer
größeren, »herrschaftlichen« Wohnung gelebt, deren Besitzerin, eine viel
beschäftigte Mutter zweier Kinder, beinahe geweint hätte, als ich ihr
vergangenen Monat eröffnete, dass ich bald nicht mehr ihr Mieter sein werde.
Ist es möglich, dass sie, die den Eingang zu meiner Wohnung von ihrem
Küchenfenster aus sehen konnte, nie etwas bemerkt
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