Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
schwersten Verletzungen überleben sollte, würde ich mich nicht abschrecken lassen und meinen Führerschein trotzdem machen. Sollte er sterben, wäre auch mein Motorradführerschein ein für alle Mal Geschichte.
Gemeinsam gehen Micha und ich durch die Notaufnahme, auf der Suche nach einem Arzt, der uns Informationen über den Zustand des Unfallfahrers geben könnte. Schließlich werden wir fündig.
Vor dem Behandlungsraum liegt eine große blaue Mülltüte mit der zerfetzten Lederkombi des Motorradfahrers und mit dem Helm. Er ist in zwei Hälften gespalten wie eine Melone und bietet einen grausigen Anblick. Hatten mich der Unfallort und das Blut dort bisher kaltgelassen, so versetzt mir der Anblick dieser Überreste einen Schock. Erschüttert bleibe ich vor dem Müllsack stehen. Die Kleidungsstücke sind blutverschmiert, die Protektoren sind lächerlich klein, und der zerbrochene Helm führt mir vor Augen, wie armselig die Illusion ist, dass irgendetwas imstande wäre, den Menschen vor den Kräften zu schützen, die bei einem Zusammenstoß zur Entfaltung kommen.
Schnell mache ich ein paar Fotos für die Unfallanzeige. Dann betreten wir den Behandlungsraum. Der Motorradfahrer liegt auf einer Liege und lächelt uns entgegen. Ein paar Kratzer hat er im Gesicht, und seine Wirbelsäule ist durch eine Art Transportkorsett stabilisiert. »Die Ärzte sagen, ich hab verdammtes Glück gehabt!«
Die Krankenschwester löst das Korsett und bedeutet dem jungen Mann aufzustehen. Vorsichtig geht er ein paar Schritte, dann grinst er uns erneut an. »Nicht mal was gebrochen hab ich!« Verblüfft betrachtet er seine Hände und bewegt die Finger.
Der Arzt betritt den Raum und schaut in die Runde. »Tja, da haben wir wohl alle nicht mit gerechnet. Abgesehen von den Schürfwunden und der Schnittverletzung am Oberschenkel, wegen der die ganze Sache so blutig wirkte, haben wir keine weiteren gravierenden Verletzungen festgestellt. Ich würde Sie gern trotzdem noch zur Beobachtung eine Nacht hierbehalten.«
Micha hat die Personalien fertig aufgenommen, und wir verabschieden uns. Auf dem Gang streift mein Blick noch einmal den Inhalt des Müllsacks, dann fahren wir zur Wache.
Nach dem Dienst komme ich nach Hause, greife mir, ohne weiter nachzudenken, meinen Helm und die Motorradjacke, steige auf die Leiter und verstaue beides unter den skeptischen Blicken meiner Katze ganz hinten oben auf dem Kleiderschrank. Anschließend streiche ich auf meinem Wandkalender die Termine für die Fahrstunden durch und murmele vor mich hin: »Pakt hin, Pakt her. Man muss sein Glück ja nicht überstrapazieren.«
Damit ist das Thema Motorradführerschein für mich endgültig abgeschlossen und erledigt, und ich rolle weiterhin in meiner roten Knutschkugel durch die Landschaft. Da ruiniert mir dann wenigstens kein lästiger Helm die Frisur, und den Wind schnuppern kann ich auch, wenn ich das Schiebedach aufmache. Hin und wieder werfe ich einer Gruppe Motorradfahrer, die an mir vorbeibraust, sehnsüchtige Blicke zu, aber im nächsten Moment denke ich wieder an den gespaltenen Helm, und meine Sehnsucht nach Geschwindigkeit und Freiheit verschwindet sofort.
Wer Scheiße baut, wird weggesperrt!
2008
Überhaupt ist Freiheit ja ein großes Thema in meinem Job. Als Polizisten beschränken wir die Freiheit von Menschen, oder wir nehmen sie ihnen ganz, zumindest für eine gewisse Zeit. »Wer Scheiße baut, wird weggesperrt!«, beschrieb ein Kollege mal sehr treffend unsere Tätigkeit.
Es ist ja nicht so, dass wir jeden Tag Straftäter erwischen und unsere Gewahrsamszellen von den ganz üblen Bösewichten überquellen. Der Gewahrsam ist keineswegs mit dem Gefängnis gleichzusetzen, in dem verurteilte Straftäter oder Untersuchungshäftlinge untergebracht werden. Die Gewahrsamszellen sind eine Art Übergangslösung. Dort werden beispielsweise Betrunkene zur Ausnüchterung untergebracht oder Menschen kurzfristig eingesperrt, die ihre Identität nicht preisgeben wollen, sodass weitere Überprüfungen stattfinden müssen. Wer im Polizeigewahrsam landet, wird in der Regel schon nach wenigen Stunden wieder entlassen, weil er entweder ausgenüchtert, seine Identität festgestellt, der Platzverweis durchgesetzt oder die Begehung weiterer Straftaten nicht mehr allzu wahrscheinlich ist. Der Hauptgrund, warum bei uns die Handschellen klicken und sich die Tür der Gewahrsamszelle hinter einem Menschen schließt, sind also nicht vorläufige Festnahmen nach großen
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