Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
Steven tatsächlich in Tränen ausbrach. Und trotzdem wich er nicht einen Zentimeter von seiner Geschichte ab. Nur dass er im Gegensatz zu Hatice durchaus kleine Änderungen in seinen Schilderungen hatte. Er ließ, was bei Vernehmungen durchaus normal ist, hier und da Sachen aus, wenn wir nicht genau nachfragten. Vor allem aber verwendete er nicht wie Hatice immer wieder die gleichen Wörter, als hätte er das Ganze auswendig gelernt.
»… dann bin ich aus dem Fenster geklettert!«, endet Hatice in diesem Moment.
Jetzt reißt mir der Geduldsfaden, und ich ergreife zum ersten Mal das Wort: »Hatice, du weißt, dass Steven ins Gefängnis geht, wenn das stimmt, was du hier sagst!«
Sie hebt den Blick, sieht mich aber nicht an, sondern blickt durch mich hindurch. Dann antwortet sie: »Ja, schon.«
Ich lasse meine Worte wirken und gucke anschließend wieder aus dem Fenster, während Andreas sie erneut zu Einzelheiten befragt. »Wie lange kennst du Steven schon? Magst du ihn? Wart ihr ein Paar?«
Gleichzeitig versuche ich immer wieder, Hatice durch aggressive Einwürfe ein wenig zu provozieren, muss aber vorsichtig sein, denn es könnte ja sein, dass unser Bauchgefühl uns doch täuscht und das Mädchen tatsächlich irgendwie unter Drogen gesetzt und missbraucht wurde.
»Bist du sicher, dass du dich nicht erinnern kannst, was dann passiert ist?«, frage ich Hatice.
»Ich hab geschlafen, das hab ich jetzt schon viermal gesagt. Sind Sie irgendwie doof oder so?«, erwidert sie trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust, wodurch sich ihr üppiger Busen hebt und fast aus dem knappen Ausschnitt fällt.
Unbeirrt frage ich weiter: »Hattest du vorher schon mal Sex mit einem Jungen?«
Sie springt entrüstet auf, beginnt wieder, an ihren Haaren zu reißen, und kreischt: »Ich bin gläubige Muslimin. NATÜRLICH HATTE ICH VORHER NOCH NIE SEX !«
Durch ihr Geschrei ist die Pflegerin angelockt worden, die bisher vor der Tür wartete. Sie nimmt Hatices Arm, löst ihre Finger aus den Haaren, blickt uns vorwurfsvoll an und führt das Mädchen aus dem Raum.
»Sie lügt! Sie bescheißt uns von vorn bis hinten, aber wenn sie dabei bleibt, geht der Junge in den Bau. Ganz klare Kiste.« Andreas fährt sich mit der linken Hand durch die Haare und blickt mich nachdenklich an.
Im nächsten Moment geht die Tür auf, und die Pflegerin führt Hatice wieder in das Zimmer. »Regen Sie die Patientin auf keinen Fall noch einmal auf!«, sagt sie mit drohendem Unterton, wirft mir noch einen letzten giftigen Blick zu und bezieht wieder Posten vor der Tür.
Das ist leichter gesagt als getan. Am liebsten würde ich das Mädchen so lange schütteln, bis sie mit der Wahrheit rausrückt, denn das, was wir bisher wissen, ist der Wahrheit so fern, dass sogar ich mit meiner geringen Vernehmungserfahrung es spüren kann.
»Okay, Hatice!« Andreas hat seinen Frauenverstehertonfall angeschmissen. »Meine Kollegin glaubt dir nicht. Was meinst du, woran könnte das liegen?«
»Weil sie eine Schlampe ist und keine Moralvorstellungen hat. Ich habe noch nie freiwillig mit einem Jungen geschlafen!« Sie blickt mich an, als hätte ich die Krätze. »Mein Vater würde mich umbringen, wenn ich so was freiwillig täte.«
Aha, denke ich, wir nähern uns dem Knackpunkt. »Darum war es ja auch schlecht, dass dein Bruder dich gesehen hat, als du aus dem Fenster geklettert bist, richtig?«, bohre ich nach.
»Ja, war nicht so gut!« Betreten beißt sie sich auf die Unterlippe und senkt den Blick. Ich halte die Luft an, denn jetzt wird es spannend. »Aber ich wollte das wirklich nicht!«, schiebt sie noch hinterher, dann greift sie sich erneut in die Haare, und an ihrem Blick erkenne ich, dass sie wieder loskreischen will.
»Jetzt ist Schluss mit dem Zirkus hier!«, fahre ich sie an. »Reiß dich mal zusammen. Hier geht’s nicht um ein Kinderspiel. Dein Freund Steven geht für ein paar Jahre in den Knast, wenn du bei deiner Aussage bleibst, und das nur, weil ihr euch gern habt und Sex hattet. Das ist nichts Schlechtes!«
Ihr bockiger Blick trifft mich. »In unserer Kultur schon, vor allem mit einem, der kein Muslim ist!«
»Aber in Deutschland nicht. Du bist siebzehn, du kannst selbst entscheiden, mit wem du schläfst. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss. Und jetzt lass das hysterische Getue, und sei endlich ehrlich!«
Andreas wirft mir einen warnenden Blick zu, während er sich von seinem Stuhl erhebt, und ich verstumme, obwohl es mir
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