Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
schwerfällt. »Hier hast du unsere Telefonnummer, falls du uns doch noch etwas anderes erzählen möchtest!« Er gibt ihr zum Abschied die Hand, während ich einfach aus dem Raum gehe. »Wir lassen ihr ein bisschen Zeit zum Nachdenken«, sagt Andreas später auf dem Krankenhausflur zu mir.
Als wir unser Büro in Kalk betreten, klingelt tatsächlich bereits Andreas’ Telefon. Eine heulende Hatice ist am anderen Ende. Natürlich liebt sie Steven, und natürlich hat sie freiwillig mit ihm geschlafen. Sie will nicht, dass er in den Knast muss.
Während Andreas noch mit ihr telefoniert, gehe ich zu den Gewahrsamszellen und sorge mit einem zweiten Kollegen dafür, dass Steven entlassen wird.
Mechanisch leisten wir die nötigen Unterschriften und wünschen dem Jungen alles Gute.
Sexualdelikte sind für uns Polizisten ein sensibles Thema: Opfer, die vor Scham schweigen, Täter, die sich keiner Schuld bewusst sind und ihr abnormes Verhalten total normal finden. Und immer wieder die Gratwanderung zwischen Wahrheit und Lüge. Vorsichtig müssen wir uns in den Vernehmungen an die Wahrheit herantasten.
Anfangs war ich geneigt, den Opfern solcher Taten vorbehaltlos Glauben zu schenken, und in vielen Fällen ist dies sicherlich nur allzu berechtigt. Aber nun, wenige Wochen und viele Fälle später, bin ich ein wenig vorsichtiger geworden. Ich zerfließe nicht mehr vor Mitleid, wenn jemand behauptet, Opfer einer Sexualstraftat geworden zu sein. Und nur weil jemand spektakulär weint, heißt das nicht automatisch, dass er – oder sie – die Wahrheit gepachtet hat. Leider.
Es gibt die verschiedensten Gründe, warum Geschichten erfunden werden: Kleine Mädchen denken sich böse Männer aus, die sie festgehalten haben, während sie tatsächlich einfach nur auf dem Heimweg von der Schule trödelten und Angst vor Strafe durch die Eltern hatten. Erwachsene Frauen dichten ihrem Ex-Lebensgefährten Straftaten an, weil sie beleidigt sind, weil es im Rahmen eines Sorgerechtsstreits ganz hilfreich ist oder weil man dem Partner einen Seitensprung nicht erklären kann. Dann sind da Mädchen wie Hatice, hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen, die mit unseren deutschen Freiheiten aufwachsen, deren Eltern aber andere Moralvorstellungen und Erwartungen an ihre Töchter haben. Aus lauter Angst und Panik verstricken sie sich dann in gefährliche Lügenmärchen.
Es waren nur ein paar Wochen, die ich auf dem Kriminalkommissariat verbrachte, doch es waren besonders lehrreiche. Ich lernte viel über psychologisches Feingefühl, ich schulte meine Fähigkeit, aktiv zuzuhören, lernte auch hier, die Geschichten nicht zu nah an mich heranzulassen, und entwickelte allmählich ein ganz gutes Gespür dafür, ob man mich gerade belog oder nicht. Für die Kollegen von der Kripo ist das ganz selbstverständlich, aber auch für den täglichen Streifendienst ist diese Fähigkeit nicht ganz unerheblich.
Lüge und Wahrheit zu erkennen stellt sich oftmals als gar nicht so einfach dar und ist die wohl größte psychologische und empathische Herausforderung, vor der ich in meiner bisherigen Dienstzeit stand. Denn wenn man sich als Polizist an eines gewöhnen muss, dann daran, dass einem grundsätzlich kaum jemand die Wahrheit sagt.
Dennoch ist es gerade im KK 12 wichtig, dass man Opfern von Sexualdelikten das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Kein wirkliches Opfer soll Angst haben, dass es sich rechtfertigen oder erklären muss. In diesen speziellen Ermittlungen ist es deshalb enorm wichtig, dass man auf die Zeugen, die Opfer und auch auf die Täter sehr intensiv eingeht und versucht, die Atmosphäre der Vernehmung so angenehm wie möglich zu gestalten. Für Kinder gibt es ein eigenes Videovernehmungszimmer, in dem man vorsichtig und kindgerecht Fragen stellen kann und sich durch eine eher spielerische Befragung den meist tragischen Vorfällen annähern kann.
Es sind heikle und sensible Fälle, mit denen die Kolleginnen und Kollegen im Kriminalkommissariat 12 zu tun haben. Nicht jeder ist dafür geeignet. Deshalb gibt es für die Beamten dort besondere Schulungen, um mit Opfern und Tätern gleichermaßen einfühlsam und angemessen umzugehen und letztlich natürlich die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Manchmal geht’s nur mit Gewalt
2011
In der Regel versuchen wir Polizisten, jede Konfliktsituation, in die wir geraten, ohne großes Aufsehen zu bereinigen, einfach und sauber. In den meisten Fällen funktioniert das auch. Hin und wieder
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