Seine Zeit zu sterben (German Edition)
dass der Kellner ihn nicht kannte oder aber, dass sich etwas ankündigte, das für die anderen noch nicht greifbar war. Mit Scotty konnte man ohne Probleme Touren gehen. Lawinen hielten die Luft an, wenn er im Hang war, der stand unter dem Schutz eines Engels, der alle Hände voll zu tun hatte und sich ab und zu mal einen Drink genehmigen musste.
Lord und Scotty hatten Yvonne überzeugt, die Polizei zu alarmieren. Ihren Sohn und Mann als gesucht zu melden, sie musste ja nicht gleich vermisst sagen, wenn ihr das Angst machte. Solange ihr Mann nicht käme, nicht erreichbar wäre, würde sie sich nicht beruhigen, sie schien ihm alles zuzutrauen, da lauerte ein Familienminenfeld, eine Beziehung, in der jeder Schritt der falsche und letzte sein konnte oder sogar war, es gab kaum Raum, sich frei zu bewegen.
Als Lord kurz vor dem Tisch war, betrat ein Mann den Raum, der aussah wie ein Gespenst, leichenblass, verstört, im Innern erfroren, aber getrieben mit letzter Kraft von einem unmenschlichen Willen. War das sein Mann, war er gekommen, wie er versprochen hatte, gegen alle Widerstände? War er durch keinen Sturm aufzuhalten?
Lord blickte ihn an, suchte seine Augen, den direkten Kontakt, um zu erkennen, ob er es war und was passieren würde. Wie könnte er sich jetzt mit ihm absentieren? Sollte er ihn, der vielleicht Yvonnes Kind getötet hatte, zu ihr an den Tisch bitten, während sie Todesängste um das Leben ihres Sohnes ausstand? Dessen Mörder verspricht, dass ihm bestimmt nichts zugestoßen sei, und der mit der gleichen Kaltschnäuzigkeit lügt, mit der er getötet hatte? Lord hätte sich am liebsten aufgelöst, wünschte, der Sturm würde durch das Fenster greifen und ihn fortreißen. Aber Lord lief nicht davon, er stellte sich, er musste zunächst herausfinden, was passiert war, was noch passieren könnte. Er fixierte den Mann, ging einen Schritt auf ihn zu als Signal, dass er ihn erkannt hatte, aber der Mann sah ihn an, sah durch ihn hindurch und ging weiter, direkt auf Yvonne zu.
»Christoph!« Yvonne sprang auf, riss alles zur Seite, wäre fast über den Tisch gelaufen, zwängte sich an Scotty vorbei und rannte auf ihren Mann zu, als könne sie im nächsten Moment kollabieren, beim nächsten Schritt in sich zusammenfallen und vor ihm wie ein Bündel Elend liegen, zu einem Embryo gekrümmt am Boden liegen, während das ganze Lokal lacht und feiert und schaut und dankbar ist für die Show, den Thrill, Ehedramen, Betrug wittert und auf eine Szene giert wie auf einen Sturz bei der Streif, den naturgemäß alle schrecklich finden.
Yvonne trommelte mit ihren Fäusten gegen Christophs Brust, als wollte sie ihm weh tun, ihn schuldig machen für all das Elend und zugleich in den Arm genommen, gerettet werden, es ist alles nicht wahr, sag, dass alles nicht wahr ist. »Wo ist Igor?«, schrie sie ihn an, »was hast du mit Igor gemacht, was hast du meinem Kind angetan!« Die letzten Silben verschluckte sie, Tränen auf der Zunge, Salz.
»Was soll mit Igor sein, er ist im Skikurs.«
»Er ist verschwunden, der Skikurs hat ihn verloren. Warum bist du nicht an dein Handy! Wo ist Igor?«
»Mein Handy ist weg, ich habe es verloren, sag jetzt nicht wieder, warum hast du kein iPhone, sonst könnte man es finden, kontrollieren …«
Er merkte, dass er abwich, schnellte zurück. »Ich bin gestürzt oder es hat mir jemand gestohlen, im Lift, in der Gondel, ich weiß nicht, ich hatte es nicht benutzt, ich wusste doch, ich sehe dich, der Sturm, ich war im Sturm, überrascht, ich dachte, er wäre bei dir, ihr wärt hier, Igor, Igor«, er rief, als würde er ihn im Raum suchen, als hätte er sich unter einem der Tische, zwischen den Beinen, hintern den Mänteln und Jacken versteckt, in der Küche, im Keller. »Die Skilehrerin hat gesagt, sie bringt ihn hierher, sie würde eh hierherkommen, sie hätte eine Verabredung.«
»Du bist schuld, deine Bequemlichkeit, wenn er erfroren ist, du hättest ihn abholen sollen, du Mörder.«
Das war der Moment für Lord einzugreifen. Er hatte den ersten Schock überwunden, es war nicht der Mann am Telefon. Oder war er es doch? Und gab sich nicht zu erkennen? Egal, er konnte die beiden jetzt nicht mitten im Raum zur Unterhaltung der Schaulustigen stehen lassen, die wie in ihren Autos neben einem Verkehrsunfall saßen und mit ihren Blicken langsam über die Verunglückten kreisten.
»Lassen Sie uns zurück an den Tisch gehen bitte, Sie stehen beide unter Schock, wir wollen uns setzen und
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