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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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unten irgendwo ist.«
    »Du kannst nicht«, Schatterer hielt sie am Ärmel, doch ein Blick von ihr löste seinen Griff.
    »Keine Angst. Ich finde einen, der mich sicher hochbringt. Und wenn es mit der Pistenraupe ist.« Sie warf ihm zu seiner Verblüffung einen Handkuss zu und verschwand durch die Menge zum Hinterausgang.

9
    »Komm rein, ich bin hier im Kinderzimmer.« Vladimir lag auf dem Bett der Zwillinge. Neben sich einen überdimensionalen Champagnerkübel, in dem man fast schwimmen konnte, prall gefüllt mit Eiswürfeln, die wie Schollen gegeneinanderstießen.
    Der Sturm hatte sich noch nicht ausgetobt, aber er holte Luft, wog alle in der falschen Hoffnung, es sei nun vorbei, er würde sich beruhigen, sich zurückziehen hinter den Wilden Kaiser, die Sonne würde erneut hervorstechen, schärfer als zuvor, und alles wäre so, als hätte es nie stattgefunden, als lägen nicht die Stadt, die Autos und sicher ein paar Menschen unter den Schneemassen begraben, erdrückt, zusammengepresst wie ein Schneeball in der Hand, ins Jenseits geworfen. Irgendwann würde auch dieser Sturm enden. Er hatte keine Chance, wie der Schnee nie eine Chance hat, es sei denn, eine neue Eiszeit bricht herein, dachte sich Vladimir, als er auf Andrej wartete, der Schnee wird verschwinden, alles wird verschwinden, was mir im Weg liegt, ich brauche nur Geduld. Ich bin wie der Frühling, lachte Vladimir in sich hinein, mit mir kommt der Matsch, der Dreck, die Knospen, ihn zu vergessen. Er sah sich mit seinen Töchtern auf einer Wiese die ersten Blumen pflücken, die es ans Licht geschafft hatten. Er flocht ihnen Haarkränze, Sommergäste, ein Kirschgarten.
    Doch bevor er weiterträumen konnte, stand Andrej im Raum, in Socken, in langen Unterhosen, in Skiunterwäsche, und sah aus, als müsste er sich zu Mütterchen Frost an den Ofen setzen und sich von ihr die Hände blasen lassen, bis er erfriert.
    Fast hätte Vladimir so etwas wie Mitleid mit ihm empfunden, wie dieser Bär von einem Mann, wie dieser Samenverschleuderer, wie diese fleischgewordene Melancholie, wie dieser selbst ernannte Dichter, der Stimmen hörte, so dastand vor ihm und alles, was ihn zu einem Killer machte, abgetötet war.
    »Trink ein Glas Champagner mit mir, wir haben einen Grund anzustoßen!« Vladimir streckte ihm das Glas entgegen und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.
    »Der Junge, Vladimir …«, er konnte nicht zu Ende reden, Vladimir unterbrach ihn sofort. »Der Junge interessiert mich nicht, kein Wort von dem Jungen, ich habe nie etwas von einem Jungen gehört oder gewusst, verstehst du?«
    »Er ist …«
    »Kein Wort, Andrej, kein Wort, trink, lass mich nicht warten, den ganzen Tag schon lässt du mich warten.«
    »Der Schneesturm …«
    »Du hast es bis hierher geschafft, so schlimm kann er nicht gewesen sein. Ich habe alle Gäste rausgeschmissen. Trink schneller, ich will dir nachgießen. Gut so, dieser Zug steht dir.«
    Andrej trank. Wenn er trinken sollte, trank er, er machte, was er musste, er gehorchte. Er hatte Angst gehabt, Vladimir würde wissen, dass er seine Frau fickt, nicht dass er es müsste, dass er es tut. Er war auf dem Weg zu ihm ganz schwermütig geworden, denn ihm war klar, dass er Vladimir töten müsste, wenn er es erfahren hätte. Weil er umgekehrt ihn töten würde, und das unendlich schmerzvoller und langsamer, als es Andrej anstellen würde, dem eine Drehung des Nackens reichte. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, sich zu überlegen, wie er ihn unverdächtig über die Klinge springen lassen könnte.
    Eigentlich hatte Andrej gehofft, er würde diesen Schneesturm nie verlassen, als ihm die Eissplitter ins Gesicht knallten, als der Sturm ihn mit blanken Fäusten schlug, als er seine Augen verbarg, blind lief, da hatte er geträumt, er würde laufen und laufen, immer tiefer in dem Schnee versinken, die Schritte würden immer schwerer werden, schon stand ihm der Schnee bis zu den Lippen, schluckte er Schnee, war er versunken, unter dem Schnee, alles war weiß, bis er die Augen aufschlug und in Russland war, es musste Russland sein, nur Schnee, bis zum Horizont, diese Luft, die er einsog, es war die Heimat.
    Er wurde plötzlich müde, ganz schwer, als gefröre das Wasser in seinem Körper, so schwer fühlte er sich, gleich würden seine Beine zusammenbrechen unter der Last. Er hielt krampfhaft das Glas fest, nur nicht das Glas fallen lassen, das edle Glas, nicht den Champagner ausschütten, er würde austrinken, dann das Glas über die Schulter

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