Seine Zeit zu sterben (German Edition)
werfen …
»Du bist ja ganz blass, was ist mit dir, Andrej? Leg dich hin, hier. Genau so, ja, du bist ja ganz heiß, deine Stirn.« Vladimir nahm einen Eiswürfel und kühlte Andrejs Stirn. Andrej wollte etwas sagen, aber seine Zunge war zu schwer, die Worte waren so schwer, dass sie die Zunge in die Kehle drücken würden und er ersticken müsste.
»Es war wohl alles heute zu anstrengend für dich, mein Lieber.« Vladimir fuhr jetzt mit dem Eis an Andrejs Hals entlang. »Erhol dich. Habe ich dir je gesagt, dass du wie ein Bruder für mich bist? Der Bruder, den ich nie hatte, von dem ich immer geträumt habe, der große Bruder? Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Ich habe sie in Amerika gesehen, im Fernsehen. Pass auf. Ist dir bequem? Also: Eine Ranch vermutlich, ein Garten, ein Baum wie der Baum der Erkenntnis, Staub. Zwei mexikanische Jungen, ein alter Mann, scheinbar gelähmt, er sitzt auf einem Stuhl, beobachtet die Brüder, neben sich eine Tonne mit Eiswasser, wie dieser Kübel hier, und Bierflaschen. Die Brüder, man muss an Kain und Abel denken, spielen und streiten sich, bis der eine sich das Kuscheltier des anderen schnappt«, Vladimir nimmt den Hasen seiner Tochter, »und es lachend vor dessen Augen und scheinbar ohne Angst vor dem Großvater zerfetzt.«
Vladimir reißt den Hasen auf und verteilt seine Eingeweide über dem Bett. »Der traurige, fast heulende Junge geht zum Großvater, er petzt, schwärzt seinen Bruder an, gibt auf das Nachfragen des Großvaters zu, ja, er wünschte sich, sein Bruder wäre tot. Dann ruft der Großvater den anderen. Man denkt, er wird ihn rügen, schimpfen, ihm ins Gesicht schlagen, aber er sagt nur: Junge, mach mir ein Bier auf. Und der Junge greift in die Eistonne. Nein, nicht das, motzt der Großvater, nimm eines, das tiefer liegt, ich will ein kaltes Bier. Und so beugt sich der Junge über die Tonne, bis plötzlich die Hand des Großvaters zum Genick des Jungen schnellt und ihn unter das Eiswasser drückt und den zappelnden Jungen dort hält, während der Alte dem Bruder ruhig ins Gesicht schaut: Soll er sterben? Willst du, dass er stirbt? Der Junge ist irritiert, überfordert, hilflos, nein, nein, er soll nicht sterben. Aber die Worte helfen nicht. Er soll nicht sterben. Er schlägt dem Alten auf die Brust, aber der hält den ums Überleben kämpfenden Bruder immer noch seelenruhig unter Wasser. Er ist nicht stark genug, ihm auf die Brust zu schlagen. Willst du, dass er stirbt?« Vladimir dreht Andrejs Kopf zu sich. »Willst du, dass er stirbt?, fragt der Großvater. Der Bruder verzweifelt, er schlägt weiter auf die Brust des Alten ein, schlag mal!« Er nimmt Andrejs Hand, aber sie ist kraftlos, er kann sie kaum heben, alleine halten. »Was er auch tut, verstehst du, es nützt nichts, die Hand bleibt am Genick des Bruders und der Kopf des Bruders unter Wasser.« Vladimir nimmt Andrejs Kopf und drückt ihn in den Eiskübel, lässt ihn kurz zappeln, zieht ihn wieder raus und setzt in aller Ruhe, ohne jede Aufregung, seine Erzählung fort. »Es reicht nicht, verstehst du? Jetzt bekommt der Junge Todesangst, hast du Todesangst? Der Junge bekommt die Todesangst seines Bruders, und er schlägt dem Alten ins Gesicht, dem Patron ins Gesicht, dem Drogenbaron, dem Chef, mir. Du hast mir ins Gesicht geschlagen.«
Vladimir drückt ihn erneut unter Wasser, unerträglich lange. Dann zieht er ihn unvermittelt am Schopf hoch. »Und er lässt los und der Bruder schnappt nach Luft. Und der andere fürchtet jetzt um sein Leben, aber der Alte lacht nur und sagt …«
Andrej hört nicht, denn sein Kopf ist schon wieder unter Wasser, zwischen den Eiswürfeln in der Kälte, er wehrt sich nicht mehr, er will sich nicht mehr wehren, er hört keine Stimmen mehr, er sieht nur zugefrorene Lippen, sieht sein Ohr, das sich wie eine Eisscholle von seinem Gesicht löst und davontreibt, die Stimmen.
So kalt ist der Tod also, denkt er, als ihn Vladimir aus dem Kübel reißt, und sieht verschwommen die Zwillinge vor dem Bett stehen und hört Vladimir ihm ins Ohr brüllen, aber das Ohr ist doch noch im Kübel …
»Merk dir eines, sagt der Großvater dem Jungen, merk dir eines: Die Familie ist alles!«
Und er drückt ihn vor den Augen der Kinder erneut in den Kübel.
»Was machst du da, Papa?«
»Wir spielen Luftanhalten, wer länger die Luft anhalten kann, Kleines, wer den längeren Atem hat, ich glaube, Andrej gewinnt.« Er ließ ihn kurz Luft holen, um ihn sofort wieder unter die
Weitere Kostenlose Bücher