Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
Vom Netzwerk:
überschritten hatte, weil er sich eine Blöße durch sein Auftreten gegeben hatte, wie er empfand, in einer Art direkt agierte, bei der ihm vorkam, er sei nackt.
    Bonnie hätte ihn längst zur Seite gedrückt gehabt, aber sie war noch nicht richtig angekommen, die Fahrt hier herauf war so gefährlich gewesen, wie die Streif hinabzusausen, ein Selbstmordkommando. Früher wäre ihr das egal gewesen, so what, ihr Leben, wen geht das was an außer sie selbst, fuck you, das ist mein Leben, damit kann ich machen, was ich will, und ich will es. Aber sie hatte Angst um sich gehabt, sie gehörte sich nicht mehr allein, das spürte sie. Warum drehte sie plötzlich so durch wegen dieses Schwangerschaftstests? Es war doch noch nichts sicher, es konnte noch abgehen, der Test konnte falsch sein, ein Materialfehler oder sie hatte einen Fehler gemacht, war zu dumm, hatte Farben verwechselt oder Ja mit Nein wie Rechts mit Links.
    Oder war es, weil es eine tiefe Sehnsucht in ihr berührte, eine verkapselte Sehnsucht nicht mehr allein sein, nie mehr allein. Langsam fasste sie sich. Lord, Rechtsanwalt Grünsee. Sie mochte ihn, er passte so gar nicht in diese Welt und beherrschte sie deshalb wahrscheinlich. Er hatte so ein Lächeln, so ein tiefes, ungetrübtes Leuchten in den Augen.
    Sie wollte, dass er sie in den Arm nahm, und sagte, dass alles gut werde, aber sie konnte nicht anders, als ihn scharf anzugehen: »Hast du jetzt hier das Kommando übernommen? Ich weiß, wie ich meine Arbeit zu machen habe, danke.«
    Normalerweise hätte sie ihn noch weiter beschimpft, in die Schranken verwiesen, aber sie war ganz dankbar für seine Vorabinformation, für seinen Vorschlag. Sie wollte so schnell wie möglich raus, hielt es hier nicht aus, hatte Furcht vor der Mutter, die ihr Kind vermisste, als könnte das ein Spiegel der Zukunft sein, eine Einführung in kommende Sorgen und Schmerzen, als könnte sie kontaminiert werden mit dem Mutterunglück dieser Frau, als würde sie ihrer eigenen möglichen Verletzbarkeit und Verlustangst in die Augen blicken.
    Lord stellte Bonnie vor, deren Kleidung noch mit Schnee und Kälte vollgesaugt war, und einen Schutzwall um sie bildete, als könnte sie die Kälte abstrahlen, ohne dass man sie berühren musste. Es fror einen, wenn man sie ansah, dabei waren ihre Blicke wärmer als je. Bonnie hatte ein hysterisches »Finden Sie meinen Sohn!« erwartet, Vorwürfe, Tränen, hatte Angst gehabt, sie werde genötigt, Hoffnung auszustrahlen, Strohhalme zu verteilen an Ertrinkende, dass sie beruhigen musste, versachlichen, bagatellisieren, dass sie alles, was sie an Psychologie gelernt hatte, abrufen musste, dass jeder von ihr die Fragen erwartete, die er aus dem Fernsehen kannte. Aber nichts dergleichen. Das Unglück war unvergleichbar.
    Die Angst um das Kind hatte die Seelen aufgefressen und ihr Hunger war noch nicht gestillt. Es war, als sparten sie ihre Kraft für den entscheidenden Moment auf, als würde der Sturm noch kommen. Bonnie versuchte die Situation zu lösen, in dem sie auf das Naheliegende zielte und die Brücke baute, über die sie schnellstmöglich hier wieder rauskam. Manche Fälle lassen sich nur im Innern lösen, im Innern eines Raumes, im Inneren der Ängste, in den Herzschatten, in den dunklen Gassen hinter den Sätzen, in den Kellern unter den Worten, hinter den verschlossenen Türen der Blicke. Andere dagegen waren nur draußen, durch Bewegung lösbar, durch Kraftverschwendung, durch Selbstverausgabung. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg fällte sie meistens im ersten Moment, schon bevor ihr bewusst wurde, dass sie eine Entscheidung treffen würde und müsste. Jetzt wusste sie, sie musste raus, raus hier, und sei es, um mit einem klareren Kopf zurückzukehren. Nur die einfachen Fragen jetzt, dachte sie und fing nach einem kurzen Blickwechsel mit Lord bei Christoph an.
    »Wo könnte Igor sein? Wo könnte er sich verstecken? Wo sind sie zusammen gefahren?«
    »Der Zauberwald«, brach es unvermittelt aus ihm heraus, als hätte er in dem Moment die Eingebung gehabt, als hätte es ihm viel früher einfallen müssen, als könne er sich gar nicht erklären, dass er nicht gleich darauf gekommen war, »ja, er sprach immer vom Zauberwald, von einem Versteck.« »Zauberwald?«, fragte Lord nach und merkte zu spät, dass Bonnie sich einen zweiten Frager verbat.
    »Ja«, antwortete Christoph fast atemlos, »diese Querfeldeinstrecke, durch den Wald, die Bäume, oben bei der Ochsalmabfahrt,

Weitere Kostenlose Bücher