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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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hatten, ich wollte keine Bibelbondage, ich wollte dich.
    Aber Gott war nicht mehr da in meinem Leben, Gott war nicht mehr da in meinem Leben, verkündete Ödön laut, er war weg. Ich habe ihn nicht gesucht, warum hätte ich ihn suchen sollen, er wusste ja, wo ich zu finden war. Ich klebte wie Kaugummi unter seiner Schulbank, ich war der Dreck unter seinen Stiefeln, ich war der Schneeball, der im Flug zerfällt, was auch immer, ich war da und habe mich den Teufel um ihn geschert.
    Es war wie mit einem Freund, den man aus den Augen verliert, weil man sich nicht mehr mit ihm auf dem Schulhof prügelt, weil er eine Freundin hat, die man nicht ausstehen kann oder die einen nicht ausstehen kann, weil er sich verändert hat oder weil er sich nicht verändert hat und immer noch so ist wie früher, am selben Ort wohnt, dieselben Sprüche klopft, dieselben Sachen trägt, von den ewig währenden Küssen spricht, zu denen es nie kam, die immer in der Luft lagen, und da immer noch abgestanden hängen, wenn er den Mund aufmacht und sein Atem nach zwanzig ungelebten Jahren stinkt, Freunde, die in ihrem Denken stehen blieben, während du dir die Lunge aus dem Leib gerannt und nachgedacht hast, dir den Kopf von den Schultern reißen wolltest, Jungs, die es nicht mal mehr auf die Ersatzbank schaffen, sondern höchstens auf die Sonnenbank, in Sonnenstudios, wo du für eine Handvoll Münzen noch den Hautkrebs bekommst, der endlich eine Veränderung ist, aber an ihrer Haut prallt alles ab, die Hornhaut der Ochsen ist stärker als deine dünnhäutigen Empfindlichkeiten. Du willst Freunde, die mit dir eine Vergangenheit geteilt haben, aber du willst, was sich geteilt hat, nicht immer wieder zusammensetzen, sondern willst es wie ein Puzzle, wo die Stücke fehlen, die das Bild abschließen, du willst die weißen Flächen, aber sie wollen es versiegeln und an die Wand hängen, voller Stolz auf das, was war, was sie geschafft haben. Sie haben nie aufgehört, in die Schule zu gehen.

12
    »Lasst uns in der Kapelle eine Verschnaufpause machen!«, schrie Scotty dem Sturm ins Gesicht, in Christophs und Bonnies Rücken, aber sie gingen weiter, als hörten sie ihn nicht, als wären die Worte weggeblasen oder so schwach, dass sie nicht durch die Helme drangen und einfach aufgaben im Wind und sich wegschleudern ließen ins Weiß wie all die anderen Worte hier draußen, die in der Luft hingen, zerfetzt, ungehört, geschrien, gehaucht, gebrüllt, geflüstert, atemlos, schwer vom Schnee, nass, aufgespießt von den Ästen, verfangen, leer, ohne ein Ohr, das sie fanden, zu weit entfernt von den Lippen, die sie hinauszwangen in diese Aussichtslosigkeit.
    »Hey, hört mir zu. Wir schaffen das nicht, wenn wir uns nicht unterstellen!« Scotty war keiner, der nachgab, er wusste, was zu tun war, er war nicht vollgepumpt mit Adrenalin, nicht getrieben von Angst, von Wut, von Verzweiflung, es war nicht sein Kind, nicht sein Fall, aber sein Leben und er hatte in dem Moment, als sie das Sonnbühel verließen, die Verantwortung für Yvonne und Christoph übernommen. Nicht, dass er es ausgesprochen hätte, aber er kannte Menschen in Ausnahmesituationen zu gut, er war an so viele Grenzen gegangen, dass er wusste, wo man innehalten musste, wo sie nicht zu überschreiten, zu überwinden waren, nicht im Inneren, nicht im Äußeren, wusste, wo sie erst einmal Luftholen mussten, Kräfte sammeln, bevor sie die Muskeln erneut anspannen und ansetzen zum Sprung.
    Ihm war natürlich die Gefahr einer Pause klar, die Gefahr, dass sie Furcht bekamen vor dem eigenen Mut, der sie hinausgetrieben hatte und den Sturm unterschätzen hat lassen, der sie in eine Falle getrieben hatte und zu dem Punkt, von dem aus der Weg zurück so gefährlich war wie der weitere Weg. Doch solange man in Bewegung war, fasste man keinen klaren Gedanken, denn die Schmerzen ersetzten jeden Gedanken oder ließen nur jene zu, die sie wegzudrücken halfen, die einen stärker sein ließen als der Schmerz, stärker als die Signale des Körpers, der nicht mehr mochte, nicht mehr konnte, die Nase voll hatte, keine Luft mehr hatte, den es fror, dessen Gleichgewichtssinn überfordert war, dessen Augen fast nichts sahen, tränten, dessen Füße zu tief einsanken, aber da sie einsanken, konnten sie zumindest nicht einfach in der Faust des Sturms weggeschleudert werden.
    Scotty gab nicht auf, bis sie sich umdrehten, zeigte zur Kapelle. Brachte sie, ohne dass er es sich erklären konnte, dazu, sich an die Wand zu lehnen,

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