Seine Zeit zu sterben (German Edition)
unter dem Dach zu stehen.
»Kommt, gehen wir rein, drinnen ist es sicher wärmer, fünf Minuten, geschützter«, korrigierte er sich, denn vielleicht hatte sich die Kälte ja in dem Gemäuer gesammelt. Ihm war klar, falls Christoph schuld an dem Verschwinden seines Sohnes war, dass die Pause ein Fehler sein könnte, weil er vielleicht ins Nachdenken käme, seine Schutzfunktionen wieder zum Leben erwachen würden, er einen Ausweg suchte.
»Das reicht, wir gehen weiter, wir gehen nicht rein, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Als hätte sie Scottys Gedanken gelesen, trieb Bonnie sie an, sie mussten nur am Wasserspeicher vorbei und dann hoch zur Ehrenbachhöhe. Von dort aus konnten sie versuchen, sich auf Skiern zu halten.
Hörte er da eine Stimme von drinnen, fragte sich Scotty und zögerte einen Moment mit dem Aufbruch. Nein, es war sicher nur der Wind, sagte er sich, ein Hirngespinst, eine Wunschvorstellung, ein Suchtrupp musste schon längst da gewesen sein oder war auf dem Weg. Sie konnten jetzt nicht in jede Station kriechen, jedes Lifthäusl, jede Hütte. Auf dem Rückweg, ja, sollten sie den Jungen nicht im Zauberwald finden. Aber jetzt war keine Zeit zu verlieren, denn es war seine Zeit, es war die Zeit des Jungen.
Nach der kurzen Pause kamen sie besser voran als gedacht. Scotty hatte sich an die Spitze gesetzt, er machte den Rhythmus, bestimmte den Weg, führte sie sicher hinauf bis zur Ehrenbachhöhe, wo sie unter dem Ochsalmlift die Ski im gespenstischen Lärm der gegeneinander schlagenden Sessellifte anschnallten, den Geräuschen der Gefahr, der Rebellion der Dinge, die zu einem zweiten Leben erwachten, nachdem sie die Menschen abgeschüttelt hatten und dem Sturm dankten für die Rache.
Scotty hatte ein ungutes Gefühl, obwohl alles den Umständen entsprechend bestens lief. Sie konnten es sogar wagen, nun auf Skiern weiterzufahren, die Sicht besserte sich, es schneite aus allen Himmelsrohren, als feuerten die Engel alle Schneekanonen ab, aber der Sturm hatte an Vernichtungswillen verloren, er bereitete seinen Rückzug vor, als wäre er zufrieden, als käme ein schlechtes Gewissen in ihm hoch, dass er es übertrieben habe, aber nicht einfach aufhören konnte, ohne sich lächerlich zu machen.
Scotty wusste nicht, was er gegen sein ungutes Gefühl tun sollte, es war nur eine Intuition, die sich aber auf nichts bezog. Oder hatte er Angst, ein totes Kind zu finden? Was gäbe es Schlimmeres?
Christoph hatte sich abgestoßen, der Wind drehte in seinen Rücken, und die beiden mussten ihm nach und die Chance nutzen. Sie querten die Piste, bis sie am Eingang des Zauberwalds waren, des Zauberwalds, den die meisten Kinder kannten, der ein offenes Geheimnis war. Christoph blickte sich nur kurz um, schrie etwas von einer roten Schleife und zeigte blind in die Baumkronen. Würden sie das Zeichen zum versteckten Eingang in den zweiten Zauberwald finden?
Bonnie blickte nach oben. Zugleich wollte, durfte sie Christoph nicht aus dem Blick verlieren, nicht dass es am Ende ein Trick wäre, sich abzusetzen, oder dass er es sich anders überlegt hätte. Halsbrecherisch bewegte er sich voran. Es war kaum etwas zu sehen, die Äste schlugen mit Fäusten zu, Schnee fiel von den Bäumen, Schneebretter, die Zweige waren tief, man musste sich bücken, ausweichen. Bonnie war unmittelbar hinter Christoph, die Geschwindigkeit war schwer zu steuern, warum lief er plötzlich so schnell?
Als Christoph vor ihr stürzte, sah sie es zu spät, sie sah ihn stürzen, fallen, er lag quer, quer im Weg, sie war in der Spur, sie raste auf ihn zu, zu schnell, sie würde mit ihren Skispitzen in sein Gesicht springen, ihn aufspießen, sie musste ausweichen, jetzt. Bonnie drehte nach rechts, verlor die Kontrolle, fiel, ein Loch, eine Mulde, sie war wie ein Geschoss und krachte mit dem Bauch gegen einen Baum, umarmte ihn. Sie schrie auf vor Schmerzen. »Mein Kind«, schrie sie.
»Kind« glaubte Scotty zu hören, hatte sie »Kind« geschrien? Das Kind gefunden, gleich wäre er bei ihr, aber sie war nicht in der Spur, er sah sie da unten liegen, gekrümmt, heulen, sie blickte ihn an, Christoph stand hinter ihm, sie blickte zu beiden hoch, aber sie schrie nicht mehr, sie presste die Hand auf ihren Bauch. Sie musste nicht schreien. Es schrie in ihr, es schrie so laut in ihr, dass sie ihre Lippen nicht auseinanderbrachte, weil sonst ihr Herz herausgeschleudert worden wäre, ihre Seele, das Kind zwischen den Lippen, könnte sie es halten?
13
»Sind
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