Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
führt – die Schritte von jemandem, der zum ersten Stock hinabschleicht und versucht, keinen Lärm zu machen.
Einen Moment lang stehe ich wie angewurzelt da, umklammere meine Tasche. Stille. Mein Instinkt sagt mir, dass es nicht Lilia ist. Aber wer dann? Wenn es der Typ ist, der mich ausgeraubt hat, warum hat er dann nicht schon längst hier unten nach mir gesucht?
Ich höre nichts mehr. Ich warte, mein ganzer Körper angespannt. Habe ich mir die Geräusche nur eingebildet? Wie Art einmal gesagt hat, haben diese Bürodielen ihren eigenen Kopf.
»Hallo?«, rufe ich. Meine Stimme klingt heiser in meinen Ohren. »Ist jemand da?«
»Geniver?« Eine vertraute Stimme weht die Treppe hinunter.
Und dann kommt die letzte Person, die ich zu sehen erwartet habe, in mein Blickfeld.
Kapitel 16
Ich stehe mit meiner kleinen Tasche unter dem Arm am Fuß der Treppe. Oben steht Arts Schwester.
» Morgan?« Mir bleibt der Mund offen stehen. »Was tust du hier?«
Morgan starrt von oben herunter. Sie ist wie immer perfekt gestylt, mit hellgrauem Rock, maßgeschneiderter Bluse und den unvermeidlichen Kitten Heels. Ihre Fingernägel und die Korallenkette, die sie um den Hals trägt, nehmen das Zartrosa ihres Lippenstifts auf. Ihr Gesichtsausdruck hat allerdings nichts Zartes.
»Was zum Teufel ist los mit dir, Geniver?«, fragt sie barsch. »Mein Bruder ist am Durchdrehen.«
In mir steigt die Wut hoch. Wie kann sie es wagen, mich hier so unvermittelt zur Rede zu stellen?
»Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst«, schnauze ich zurück.
Sie stöckelt die Stufen herunter und fegt an mir vorbei. Ich mache kehrt und folge ihr. Der Flur ist voller Mäntel und Tüten, wie immer, in der Ecke ein wankender Stapel Zeitschriften.
»Das muss endlich aufhören«, sagt sie und stampft dabei sogar mit dem Fuß auf. In ihrem Mundwinkel bleibt ein wenig Spucke im Zartrosa hängen – ein Riss in ihrem Panzer, der mir eine diabolische Freude bereitet. »Ich habe gestern Abend mit Art gesprochen. Er hat mir gesagt, was du ihm vorwirfst, und ist am Boden zerstört. Ich habe alles stehen und liegen gelassen und bin sofort hergekommen.«
Sie weiß nicht nur, was ich Art anvertraut habe, sie ist auch noch über Nacht hier gewesen. In meinem Haus. Ich lasse die Tasche auf den Boden fallen.
»Das geht dich überhaupt nichts an«, entgegne ich. »Und außerdem kennst du nicht die ganze Geschichte.«
Sie hebt theatralisch die feinen Augenbrauen. »Über dein Baby? Selbstverständlich kenne ich die ganze Geschichte. Alle kennen sie. Du und Art, ihr habt eure Tochter verloren. Und alle haben wir mit euch getrauert. Art hat sich zusammengerissen und sein Leben in die Hand genommen. In vorbildlicher Weise. Du dagegen hast dich davon so weit herunterziehen lassen, dass du Art jetzt wie ein Mühlstein um den Hals hängst.«
»Halt’s Maul!« Ich balle die Fäuste.
»Und jetzt dieser … hysterische Unsinn …«
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Du hast ja keine Ahnung.« Aber noch während ich das sage, werde ich von Scham überwältigt. Morgan hat ja recht; ich will mir das nur nicht eingestehen. Natürlich habe ich mich davon herunterziehen lassen … Mein Leben ist zum Stillstand gekommen, während Arts Gegenwart und Zukunft in prächtigen Farben strahlen.
Ich muss hier weg. Ich hebe meine Tasche wieder auf und dränge an Morgan vorbei, aber sie packt mich am Arm.
»Hör zu«, sagt sie. »Ich weiß, dass ich dir herzlos vorkomme und dass es schwierig ist, darüber hinwegzukommen. Aber ich ertrage es einfach nicht, was du Art antust.«
»Und was ist mit dem, was er mir angetan hat?« Ich winde meinen Arm aus ihrem Griff.
»Glaubst du vielleicht, er hätte eine Affäre?«
Ich sehe sie ungläubig an. Wie kommt sie bloß auf diese Idee? Ich muss an das Hotelzimmer denken, in dem Art am Montag gewesen ist. Was weiß sie darüber?
»Nein«, antworte ich und hoffe, dass es zuversichtlicher klingt, als ich in dieser Sache bin.
»Gut. Er könnte dir niemals untreu sein.«
»Morgan, um Himmels willen, du weißt nicht, wozu Art imstande ist.«
»Doch, das weiß ich gut«, zischt sie. »Ich bin immerhin seine Schwester. Ich kenne ihn besser, als du denkst, Geniver. Vielleicht sogar besser als du selbst. Verstehst du denn nicht? Er liebt dich. Für dich hat er doch alles geopfert.«
»Was?« Ich starre sie wütend an. »Was denn zum Beispiel?«
»Kinder, zum Beispiel.« Ihr Mund zittert nun leicht. »Du weigerst dich, eine
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