Seit jenem Tag
verwerfen.
»Man hat entdeckt, dass ihre englische Fahrerlaubnis mit Punkten belastet ist, von denen ich nichts wusste, und man sagt, die Tatsache, dass sie ein paar Sitzungen bei einem Psychotherapeuten hatte, lasse auf eine Depression schließen. Es soll eine Befragung stattfinden, um an mehr Hintergrundinformationen zu kommen.«
Sein Ton verrät seine Wut, aber ich entdecke auch eine Trostlosigkeit, die wie eine dichte Regenwand über ihn hinwegzieht. Wie schrecklich muss es sein, sich auf diese negativen Punkte zu konzentrieren, wenn man sich nichts mehr wünscht, als nur das Gute im Auge zu behalten.
»Das scheint mir etwas dürftig zu sein«, sage ich im Versuch, das Ganze zu relativieren. »Jede Menge Leute haben Therapiesitzungen hinter sich, auch ich.« Wieder dieser Sog der Vergangenheit. Mein Ich mit um die zwanzig, das sich schluchzend über Mädchenprobleme ausließ, die sich zwar lächerlich anhörten, mich aber bis ins Mark trafen. »Und ein paar Punkte wegen überhöhter Geschwindigkeit …«
»Das sieht man dort anders. Ich wurde angerufen – am Tag der Trauerfeier …« Er sieht mich fast beschämt an. Wie viel glaubt er wohl, dass ich mitbekommen habe? »Sie wollen die Leiche exhumieren.« Ich schnappe nach Luft, und mir wird schwindelig, weil alles Blut aus meinem Kopf weicht. Besorgt blickt er in mein kalkweißes Gesicht. »Tut mir leid, ich sollte dich damit nicht belasten.«
»Nein, bitte …« sage ich und schaue ihn an, bemüht, meine Gefühle im Zaum zu halten. »Das kann man doch unmöglich von dir verlangen!« Meine Stimme ist schrill, als käme sie von irgendwo außerhalb meines Körpers. Ich habe nicht das Gefühl, meinem Körper verhaftet zu sein, blicke auf meine Hände, die auf dem schweren Eichenholz des Esstischs liegen, und versuche, mich wieder zu fangen. Was ist Sally jetzt – ist sie der Körper, der im kalten Boden liegt? Ist sie die Energie, die durch diesen Raum pulsiert? Oder ist sie nichts weiter als eine Ansammlung unserer sich widerstreitenden und überlappenden Erinnerungen?
»Ich habe mich natürlich geweigert, aber man versucht, einen Fall daraus zu machen. Aufgrund der Vermutung, sie könnte alkoholisiert gefahren sein, soll eine toxikologische Untersuchung angeordnet werden. Diese schrecklichen Anzugheinis, die sie nicht kennen – es ist doch lächerlich, so etwas zu unterstellen.«
Eine Erinnerung trifft mich wie der Blitz einer Kamera: Sally, die nicht nur betrunken, sondern auch high ihren schicken kleinen Peugeot dazu bringt, die Kurven schneller zu nehmen, als wir auf dem Rückweg von einem Klub in Manchester sind, während ich aus vollem Hals singe und mich in Todesangst an den Sitz klammere. So lächerlich erscheint es mir gar nicht.
»O Gott, William, es tut mir so leid«, sage ich, zu geschockt, um zu weinen. »Gibt es etwas, irgendetwas, das ich tun kann?« Diesmal ist es mir ernst. Es könnte mir nicht ernster sein.
»Das gibt es in der Tat«, entgegnet er. »Ich muss mit den ermittelnden Beamten sprechen. Ich muss am kommenden Samstag unter Eid aussagen. Mir ist nicht entgangen, wie freundlich du auf Madeline eingehst, und sie hat unentwegt von dir gesprochen, als ich sie ins Bett brachte.« Wie kann das sein, nachdem ich mich so ungeschickt und unmöglich benommen habe? Ich behalte es für mich und lächele zustimmend. »Ich bin mir sicher, dass sie sich über einen Besuch des Natural History Museum, das du vorgeschlagen hast, freuen würde. Hättest du vielleicht Lust, mit ihr dort hinzugehen?«
»Natürlich.«
»Ich danke dir.«
Es ist, als könnten wir, wenigstens für eine kurze Weile, durchatmen. Er erkundigt sich nach meiner Arbeit, ich mich nach seiner. Doch als die Zeiger der Stiluhr auf dem Kaminsims auf 22:30 Uhr stehen, bin ich dann doch erleichtert, mich höflich verabschieden zu können. Ich möchte rechtzeitig zu Hause sein, um James noch zu sehen: rechtzeitig, um über Charlotte und über den Quatsch im Fernsehen lästern zu können und so zu tun, als wären diese Dinge wirklich von Bedeutung.
William hilft mir in meinen Mantel und wartet geduldig, bis es mir gelungen ist, meine Arme in die Ärmel einzufädeln.
»Ich danke dir noch mal«, sagt er und sieht mich dabei direkt an. Seine Ausstrahlung ist sehr erwachsen, und das liegt nicht nur an seiner altbackenen Bekleidung. Er ist ein Mann, kein Junge, und diese Erkenntnis verdeutlicht mir, dass es nur wenige Männer gibt, die diesen Titel tatsächlich für sich in Anspruch
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