Seit jenem Tag
nehmen können.
»Nein, ich habe zu danken«, erwidere ich. »Und ich freue mich, Madeline und dich nochmal zu sehen, bevor ihr abreist.«
»Olivia«, sagt er, plötzlich sehr eindringlich, »willst du etwas für mich tun? Kannst du mir etwas über Sally erzählen, von dem du glaubst, ich wüsste es nicht?«
Da ist sie, die Quizfrage, der Grund, weshalb er mich gebeten hat, zu ihm zu kommen. Ich finde es interessant, dass er sich erst jetzt, da ich bereits auf der Türschwelle stehe, sicher genug fühlt, sie mir zu stellen. Ich atme tief durch und denke nach, ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen.
»Sie hat jeden Raum zum Leuchten gebracht und dafür gesorgt, dass alle anderen darin zwanzig Prozent ihrer Strahlkraft einbüßten. Sie konnte freundlich sein – ich meine, sie war freundlich. Als ich ihr wichtig war, hatte ich immer dieses mollige Gefühl in mir.« Hoffentlich wiegt die Wahrheit dieses Gefühls die ebenso gültige Wahrheit meines Zögerns auf. Ich vermag seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten, er beobachtet meinen Mund, als wollte er die Worte in der Sekunde auffangen, in der sie aus mir heraussprudeln. »Sie brachte mich zum Lachen, wie sonst niemand, und fand für die Leute immer die besten Spitznamen. Sie schien immer den Grand National zu gewinnen, obwohl sie überhaupt nichts von Pferden verstand, und in einem Jahr gab sie den ganzen Gewinn für ein Paar Stiefel aus, die ich haben wollte, aber mir nicht leisten konnte. Sie weinte, als Miles Anna in This Life nicht heiratete, aber sie weinte nicht bei Schindlers Liste.« Ich halte inne und sehe in sein eingesunkenes Gesicht, die Augen darin traurige Teiche. »Reicht dir das?«
»Ich weiß nicht, ob reichen das richtige Wort ist«, sagt er mit weicher Stimme. Wir verweilen einen Moment in einem betretenen Schweigen.
»Ich sollte gehen.«
»Natürlich. Und noch mal vielen Dank. Du hast mich an einige Seiten von Sally erinnert, die ich vielleicht …« Er hält inne. »Es ist gut, sich wieder daran zu erinnern.«
Es ist gut, sich zu erinnern. So viel steht fest.
Kapitel 6
Es ist acht Uhr am Freitagabend, ein Abend, an dem ich eigentlich in einer lauten Bar was trinken sollte, tatsächlich jedoch versuche ich die verlorene Zeit aufzuholen, insbesondere die verlorene Zeit der vergangenen paar Wochen, in denen ich nach schlafwandlerisch überstandener Arbeitszeit um sechs Uhr abends nach Hause kam. Der Termin für unsere Präsentation ist in weniger als einer Woche, und wir warten noch immer auf unser Aha-Erlebnis. Ich hoffe nun, dass mich die Muse küssen wird, wenn ich nur lange genug in einem leeren Büro sitze und mir Videoclips von Flynn Gerrard ansehe und verstreute Nachrichten google. Als Amy mir auf die Schulter tippt, fahre ich fast aus der Haut. Ich nehme meine Kopfhörer ab.
»Wo kommst du denn her?«
»Ich war im Konferenzraum. Charlotte hat mich gebeten …« Sie hält inne, weil ihr einfällt, dass wir uns in rivalisierenden Teams befinden.
»An einem Freitagabend?«
»Ja, an einem verdammten Freitagabend. Ich muss allerdings ehrlichkeitshalber sagen, dass sie mich nicht gebeten hat, es heute Abend zu tun, aber es ist so viel Arbeit, dass ich mir überlegt habe, mich gleich reinzustürzen, damit ich nicht alles am Sonntag erledigen muss.«
»Hätte sie dir denn nicht helfen können?«
»Sie geht mit Peter aus.«
»Dem Freund?«
»Hast du ihn mal kennengelernt?«
Ich schüttele den Kopf und genieße insgeheim, wie sich das Gespräch entwickelt.
»Ich habe ihn mal bei irgendeinem Empfang getroffen. Mir ist er nicht sonderlich sympathisch.« Ich versuche, mir mein Erstaunen nicht anmerken zu lassen: Amy lästert sonst nicht allzu viel. »Du weißt schon, so ein Angebertyp. Erzählte ständig von seinen Investitionen und machte sich an der Theke breit, als wollte er sie erobern.«
Wir prusten los vor Lachen.
»Sollten wir nicht Schluss machen«, schlage ich tastend vor, »und endlich was trinken gehen, wie wir uns das schon lange vorgenommen haben?«
»Ah, das würde ich gern, aber ich bin mit Evan zum Abendessen verabredet.«
»Oh, okay«, sage ich und fühle mich vor den Kopf gestoßen, obwohl ich weiß, dass es keine Ausrede ist. »Vielleicht nächste Woche?«
»Ein Treffen mit dem Feind? Wie aufregend!« Sie grinst. »Dann mach mal schön weiter.« Sie schielt auf meinen Bildschirm. »Was ist das denn?«
Dies ist ein weiterer Nebeneffekt meiner scharfsichtigen Erkenntnis, dass das Leben erschreckend kurz ist. So
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