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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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habe dir geholfen, sie auszusuchen.«
    Es ist, als wäre sie nicht da. »Warum hast du das getan?«, frage ich erneut, doch dieses Mal schreie ich anscheinend. »Inga! Warum? Inga! Antworte mir!«
    Nichts.
    »Ich bin’s, Rosie«, erinnere ich sie. »Deine beste Freundin. Findest du nicht, dass du mir eine Antwort schuldig bist?«
    Wieder nichts. Dann doch etwas. Die Eingangstür geht auf und zu. Eine Minute später höre ich, wie eine Autotür zuknallt, wie der Motor anspringt und wie sein Brummen leiser und leiser wird. Inga ist fort. Ich habe sie aus ihrem eigenen Haus verjagt. Immerhin etwas.
    Ich löse mein Gesicht von dem Gitter. Eine Frau im Garten neben Ingas steht auf einer Leiter vor ihrem erhöhten Pool und tut so, als würde sie mit einem Netz die Käfer herausfischen, obwohl sie in Wahrheit einfach nur mich beobachtet. Sie lächelt mich mit ihren unvorteilhaften Shorts an, und die Cellulitis an ihren Beinen glänzt. »Ich glaube, sie ist weg«, sagt sie.

8
Take my breath away
    Mein Vater hat nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehört zu reden. Als Kind wusste ich das natürlich nicht, denn als Kind hatte ich keine Ahnung, wann der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Ich dachte, mein Vater hätte nie geredet. Soweit ich es beurteilen konnte, war er schon in einem Fernsehsessel sitzend zur Welt gekommen, die Andeutung eines freundlichen Lächelns auf dem Gesicht und eine Dose Bier in der großen Hand. Es ist wie in »Endstation Sehnsucht«: Er ist eine Art Stanley Kowalski, nur ohne das Böse. Er brüllt meiner Mutter Stella! entgegen, aber lediglich durch seinen unbeweglichen Blick.
    Das schien ihr zu reichen, wenn auch ich nicht zufrieden damit war. Erst nachdem ich Teddy geheiratet hatte, gestand meine Mutter mir eines Tages in Commack, während wir ihre Wäsche aufhängten, wann mein Vater aufgehört hatte zu sprechen.
    »Tja, seit unserer ersten Verabredung hat er nie mehr ein vollständiges Gespräch mit mir geführt«, sagte sie und befestigte sein Hemd an den Schultern an der Leine.
    Man konnte neben ihrer Wäscheleine im Hinterhof stehen und in jeder Richtung auf fünf oder sechs weitere Hinterhöfe blicken. So ist das in Commack. So ist das in ganz Long Island, wie ich es kenne. Flache Reihenhäuser mit Müttern in den Hinterhöfen. Über Meilen reihen sich Ladenzeilen, Einkaufszentren, Ersatzteilläden und Autohändler aneinander. In der Luft liegt ein leichter Salzgeruch.
    »Ma«, habe ich sie gefragt, »wie hast du das ausgehalten? Wie konntest du ihn heiraten?«
    Meine Mutter sah mich aus ihren scharfen Augen an, und in ihrem Blick konnte ich Wut auf mich erkennen, nicht auf meinen Vater. »Jetzt hör mir mal zu, Fräuleinchen, wenn du deinen frischgebackenen Ehemann in einem Jahr so gut kennst wie ich deinen Vater nach diesem ersten Treffen, wäre ich sehr überrascht.« Sie deutete mit einer hölzernen Wäscheklammer auf mich. »Man muss nicht die ganze Zeit reden, um jemandem zu sagen, wie sehr man ihn liebt.«
    Das war vor vier Jahren, und ich weiß noch genau, dass ich unter anderem mit einem höhnischen Lächeln auf diese Aussage meiner Mutter reagierte. Ich ließ es sie durch die Reihen feuchter Wäsche sehen; ich dachte, ich wüsste, wo es langgeht! Jetzt, wo Teddy bereits seit drei Wochen fort ist, sehe ich natürlich die Wahrheit in ihren Worten. Während unserer reichlich kurzen Ehe redete Teddy ohne Unterlass, meistens jedoch über Teddy. An jenem Tag, als ich mit meiner Mutter Wäsche aufhängte, glaubte ich noch, dass diese Ehe im Hause Disney geschlossen worden sei. Ich war eben neunmalklug, frisch ausgestattet mit dem falschen Gefühl von Weisheit, das einem das Schreiten durch den Mittelgang einer Kirche verleiht.
    »Ma«, hatte ich gesagt und dabei ein langes weißes Laken über die Leine geworfen, um mich von ihr zu distanzieren, »wir Sozialpädagogen reden von verbalem Missbrauch, wenn jemand Wörter wie Waffen einsetzt. Wenn jemand seit über vierzig Jahren nicht mit dir spricht, kann man das durchaus nicht verbalen Missbrauch nennen.«
    Meine Mutter riss das Laken von der Leine und ließ es, feucht, wie es war, zu Boden fallen. Ihr Gesichtsausdruck war versteinert, und sie war alles andere als amüsiert. »Sprich mir gegenüber nie wieder so über deinen Vater«, sagte sie, »nie wieder.«
    Ich war immerhin so klug, darauf nichts zu entgegnen. Mir war klar, wen meine Mutter zuerst ins Rettungsboot ziehen würde, sollte ihre Familie mit der Titanic untergehen.
    An diesem Morgen

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