Seitenwechsel
ihre Worte mit einem kleinen, ehrerbietigen Lächeln für Brian begleitete und ihrerseits sein amüsiertes, spöttisches Lächeln bekam.
Sie erinnerte sich, dass Clare während der Fahrt in den Norden der Stadt gesagt hatte: »Weißt du, ich fühle mich genau wie an dem einen Sonntag, als wir zur Christbaumfeier gingen. Ich habe gewusst, dort würde es für mich eine Überraschung geben, ich wusste nur nicht, welche genau. Ich bin ja so aufgeregt. Du kannst dir das unmöglich vorstellen! Toll, dass wir jetzt wirklich dahin unterwegs sind! Ich kann es kaum glauben!«
Bei ihren Worten spürte Irene, wie kalter Hohn sie erfasste. Dieser übertriebene Ton! Sie bemühte sich, gleichgültig zu klingen: »Vielleicht wirst du ja in mancher Hinsicht überrascht werden, wahrscheinlich mehr, als dir lieb ist.«
Brian am Lenkrad hatte entgegengehalten: »Am Ende wird es sie wiederum doch nicht so überraschen, denn es ist zweifellos das Erwartete. Wie der Christbaum.«
Auch erinnerte sie sich, wie sie hin und her gehetzt war, sich mit dem oder jenem beraten und manchmal einen Teil eines Tanzes mit einem Mann erwischt hatte, dessen Tanzstil ihr besonders lag.
Und sie erinnerte sich, wie sie Clare immer wieder flüchtig in der wirbelnden Menge gesehen hatte, manchmal tanzte sie mit einem Weißen, öfter mit einem Schwarzen, häufig mit Brian. Irene war froh, dass er nett zu Clare war, und froh, dass Clare die Gelegenheit hatte, zu entdecken, wie einige Farbige einigen Weißen überlegen waren.
Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie mit Hugh Wentworth in einer freien halben Stunde geführt hatte, als sie sich in einen Sessel in einer leergeräumten Loge hatte fallen lassen und den Blick über die fröhliche Menge im Saal schweifen ließ.
Junge Männer, alte Männer, Weiße, Schwarze; jugendliche Frauen, ältere Frauen, rosafarbene Frauen, goldene Frauen; fette Männer, dünne Männer, große Männer, kleine Männer; korpulente Frauen, schlanke Frauen, stattliche Frauen, zierliche Frauen rauschten vorbei. Ein alter Kinderreim kam ihr in den Kopf. Sie wandte sich Wentworth zu, der sich gerade neben sie gesetzt hatte, und sagte den Abzählreim auf:
»Edelmann , Bettelmann ,
Doktor , Pastor ,
König , Bauer ,
Lump , Major . «
»Ja«, sagte Wentworth, »das trifft es. Hier scheint ja Gott und die Welt zu sein. Aber ich versuche gerade, Name, Status und Rasse der blonden Schönheit aus dem Märchen herauszufinden. Im Augenblick tanzt sie mit Ralph Hazelton. Hm, hübsches Studienobjekt für Kontraste.«
Das stimmte. Clare schön und golden, wie ein sonnenheller Tag. Hazelton dunkel, glänzende Augen, wie eine mondhelle Nacht.
»Ich habe sie vor langer Zeit in Chicago gekannt. Und sie wollte vor allem Sie kennenlernen.«
»Hm, sehr liebenswürdig von ihr, ganz sicher. Und jetzt ist, leider!, das Übliche passiert. All die anderen, diese – äh – ›schwarzen Gentlemen‹ haben ihr den rein nordischen Typ aus dem Kopf geschlagen.«
»Dummes Zeug!«
»Hm, reine Tatsache, und was passiert mit all den Damen meiner überlegenen Rasse, die hierhergelockt werden? Sehen Sie sich Bianca an. Habe ich sie heute Abend zu Gesicht bekommen, außer mal hier und mal dort, während sie von irgendeinem Äthiopier herumgewirbelt wird? Nein, habe ich nicht.«
»Aber Hugh, Sie müssen zugeben, dass der Durchschnitts-Farbige ein besserer Tänzer ist als der Durchschnitts-Weiße – das heißt, wenn die Berühmtheiten und die spendierfreudigen Geschäftsleute, die den Weg hierherfinden, denn Musterexemplare weißer Tanzkunst sind.«
»Da ich mit keinem der männlichen Personen das Tanzbein geschwungen habe, bin ich nicht in der Lage, dem zu widersprechen. Aber ich glaube nicht, dass es nur das ist. Hm, muss was anderes sein, eine andere Anziehungskraft. Sie schwärmen immer vom guten Aussehen eines Schwarzen, möglichst eines ungewöhnlich dunklen. Nehmen Sie zum Beispiel Hazelton dort. Dutzende von Frauen haben ihn als faszinierend schön bezeichnet. Wie ist es mit Ihnen, Irene? Finden Sie, dass er – äh – bildschön ist?«
»Nein, gar nicht. Und ich glaube, die anderen Frauen auch nicht. Nicht wirklich. Ich glaube, was sie fühlen, ist – nun, so eine Art seelischer Erregung. Verstehen Sie, so wie das, was man in der Gegenwart von etwas Fremdem fühlt und was einem vielleicht sogar ein wenig zuwider ist; etwas so Andersartiges, dass es all den eigenen, gewohnten Vorstellungen von Schönheit diametral entgegengesetzt
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