Seitenwechsel
erklärte: »Wissenschaftler versuchen herauszufinden, ob zum Beispiel ein Mann ohne Beine, aber mit Prothesen, schneller laufen könnte als ein gut durchtrainierter Mann mit Beinen und die Prothesen daher einen Wettkampfvorteil darstellen.«
»Klingt interessant.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, klingt total öde. Das will doch keiner lesen.« Ich stöhnte genervt auf, weil ich mich viel zu lange mit dem Thema beschäftigt hatte, als dass ich es jetzt fallenlassen konnte. Aber es gab einfach keinen spannenden Ansatz. Tim überlegte.
»Na ja, vielleicht ist es das Doping von morgen. Prothesen sind leichter, nicht so verletzungsanfällig und können immer weiter perfektioniert werden. Beim Menschen ist irgendwo immer die körperliche Grenze …« Ich nickte ungläubig. Tim schüttelte sich gerade problemlos genau die Art von Ideen aus dem Ärmel, nach denen ich schon den ganzen Tag über vergeblich in meinen Hirnwindungen gesucht hatte. Im Grunde hätte ich seine spontane Abhandlung Wort für Wort mittippen können. »Doping von morgen. Das ist gut. Ist es okay, wenn ich dich als Fachmann zitiere?«
»Aber nur, wenn du mich als Herrn N. aus K. unkenntlich machst.«
Wir mussten beide lachen. Zu Beginn meiner Sportjournalistenlaufbahn hatte ich Tim zu jeder Gelegenheit als Fan, Sportler oder Fachberater zitiert. Als Tim aus Köln, T. N. aus K. oder Herr Norlinger aus Bayern war er früher einer meiner begehrtesten Interviewpartner gewesen.
»Ich schreibe einfach, dass meine Quelle nicht genannt werden will, das klingt immer spannend.« Wieder glucksten wir gleichzeitig los, als unsere Erinnerungen an damals durch die perfekte Handy-Imitation eines altmodischen Telefonklingelns, das ich irgendwann mal witzig gefunden hatte, unterbrochen wurden. Ich begann hektisch in meiner Tasche zu wühlen.
»Geh nicht dran«, bat Tim leise.
»Aber es könnte wichtig sein.« Jetzt hatte ich den vibrierenden Störenfried in meiner Tasche ertastet und zog ihn hervor.
»Dann meldet derjenige sich bestimmt später noch mal.«
Ich zögerte und schaute auf das Display. Mist, unbekannter Teilnehmer.
»Aber …«
»Geh nicht dran«, sagte Tim dieses Mal eindringlicher und versuchte mich zu überzeugen, indem er mich noch näher an sich zog, mir mit der rechten Hand die Mütze vom Kopf strich und seine linke Hand in meinen Haaren vergrub, während er seine Lippen sanft auf meine drückte.
Es klingelte erneut. Ich ging nicht dran.
Mit besten Vorsätzen
Beim nächsten Mal, exakt eine Woche später, hatte ich Kopfschmerzen. Wir trafen uns wieder bei Tina im Dachgeschoss. Und eigentlich war ich auch nur gekommen, um Tim zu sagen, dass ich mit unserem letzten Treffen nicht, wie er nun vermutete, auf sein Affärenangebot eingegangen war. Dass unser Tête-à-tête auf Tinas Dachgeschoss schließlich so verlaufen war, wie es nun mal verlaufen war, bedeutete nicht, dass ich bereit war, das zu wiederholen. Obwohl seine Anregungen zu meinem Artikel dazu geführt hatten, dass das Thema seitdem in Leserbriefen äußerst kontrovers diskutiert wurde und wir bereits zwei Gastbeiträge dazu veröffentlicht hatten. Aber das war schließlich nicht das Ziel unseres Geheimtreffens gewesen. Davon mal abgesehen hatte ich Tim nicht verziehen, dass er mich nach allen Regeln der Kunst verführt hatte und ich zu spät zu der Pressekonferenz gekommen war, die sich als kompletter Reinfall erwiesen hatte, weil lediglich der Rausschmiss eines Spielers aus der zweiten Reihe bekanntgegeben wurde.
Dieses Mal also war ich mit den besten Vorsätzen losgefahren, nachdem Tim mich vor einer halben Stunde angerufen hatte, um mir zu sagen, dass er sich aus mysteriösen Gründen in der Nähe von Tinas Haus aufhielte und ob ich nicht auch Lust hätte, dort vorbeizukommen. Dieselben besten Vorsätze hatte ich auch noch, als wir uns entschlossen, aufgrund der spätwinterlichen Kälte ins Haus zu gehen. Aber leider hatte ich auch Kopfschmerzen. Heftige, pochende Kopfschmerzen, weil ich mich den ganzen Vormittag am Telefon mit der Managerin eines Fußballers herumgeschlagen hatte, der das Interview, das ich Wort für Wort so mit ihm geführt hatte, nicht freigeben wollte. Oben angekommen fragte Tim, was los sei, und anstatt ihm von meinen guten Vorsätzen zu berichten, sagte ich, dass ich Kopfschmerzen hätte, und Tim bot mir selbstlos eine Nackenmassage an. Ich legte mich auf die verstaubte Matratze, ließ meinen ganzen Frust über die Managerin und den Fußballer, der
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