Seitenwechsel
meine Stichpunkte gegangen war, hatte ich nicht wirklich lange gebraucht, um die Bedeutung dieser Fremdnotiz zu durchschauen. Aber ich wünschte mir, ich hätte sie nicht durchschaut. Dann hätte ich mir nicht den ganzen Vormittag den Kopf darüber zerbrochen und wäre jetzt auch nicht mit meinem Artikel in Verzug. Tim machte Ernst. Er wollte eine Affäre beginnen und hatte es geschickt mir überlassen, darauf einzugehen oder nicht, indem er mir still und heimlich diese Verabredung untergejubelt hatte. Gestern Nachmittag vermutlich schon, auf dem Spielplatz, als er Kai abholte und ich zurück in die Redaktion musste. Da hatte ich unvorsichtigerweise meine Tasche mit dem Block auf der Bank stehen lassen, während ich mit Kai ein letztes Mal zusammen die große Rutsche heruntergerutscht war. Tim hatte die Gelegenheit genutzt, schnell die ominösen Worte zwischen meine Zeilen gekritzelt und sich dann unschuldig mit seinem bayrisch-kölschen Servus-Tschö von mir verabschiedet.
Ich las seine Nachricht noch einmal durch und schüttelte den Kopf. Seit wann war er so durchtrieben? Ausgerechnet Tim, der ehrlichste Mensch der Welt, der schon rot wurde, wenn er beim Rausgehen aus Karstadt Sport den Alarm auslöste, weil ein schusseliger Verkäufer vergessen hatte, die Sicherung von seinen neuen Joggingschuhen zu entfernen. Dieser Tim hatte offenbar Gefallen an Affären gefunden. Vielleicht hatte sein Seitensprung mit Sarah ja irgendeinen Knoten in ihm gelöst, auf jeden Fall fand ich es unheimlich, wie geschickt Tim unser heimliches Treffen in die Wege leitete. Vorausgesetzt, ich würde daran teilnehmen. Denn genau diese Entscheidung hatte mich schon den ganzen Vormittag vom Arbeiten abgehalten. Eigentlich hatte ich nicht vor, um zwei Uhr vor der Tür zu stehen. Auch zehn nach zwei oder zwanzig nach nicht. Ich würde heute überhaupt nicht rausgehen, bevor ich nicht sicher sein konnte, dass Tim den Parkplatz wieder verlassen hatte. Er hatte es mir ja auch leicht gemacht. Ich musste einfach nur sitzen bleiben. Hier, an meinem Schreibtisch und endlich mit dem verdammten Artikel über Körperprothesen im Hochleistungssport anfangen, für den ich keinen Einstieg fand. Ich musste einfach nur sitzen bleiben, mich konzentrieren und tippen. Aber jedes Mal, wenn ich die Finger auf die Tastatur legte, tauchte von irgendwo aus meinem Hinterkopf wieder die gleiche Frage auf: Warum hatte er mich nicht gefragt? Seit Tina das Geheimnis vor einer Woche ausgeplaudert hatte, konnte ich nur noch an Tims nicht gemachten Heiratsantrag und meine nicht gegebene Antwort denken. Hätte ich ja gesagt? Es war ein vertrackter Teufelskreis. Kaum hatte ich mich davon überzeugt, dass eine Affäre mit Tim albern, zwecklos, absolut unverzeihlich wäre, kam dieses »Was wäre wenn« wieder auf. Was wäre, wenn er mich damals gefragt hätte, ob ich ihn heiraten wollte? Wären wir dann jetzt noch zusammen? Was wäre, wenn eine Affäre die einzige Möglichkeit war, das herauszufinden? Was wäre, wenn das unsere letzte Chance war? Aber nein, eine Affäre mit Tim wäre das Dämlichste, was ich jetzt anfangen konnte. Ich wollte Hannes schließlich nicht verlieren. Also zurück zu den Halbrobotern im Hochleistungssport. Genau, das war doch ein guter Einstieg. Halb Mensch, halb Roboter – warum konnte eine Prothese Muskelkraft ersetzen? Warum hatte ich mich noch mal für dieses Thema interessiert? Warum hatte Tim mich nicht gefragt? Es war fünf vor zwei. Verdammt, und warum konnte nicht schon längst Feierabend sein?
Meine Augen wanderten automatisch zum Ausgang, dann zu Hannes’ Büro. Das leer war, weil Hannes just in dem Moment seine Tür aufmachte und auf mich zukam. Gott sei Dank. Ich würde es ohnehin nicht schaffen. Es war vier Minuten vor zwei. Hannes trat an meinen Schreibtisch und erklärte, dass mein Artikel erst in die Freitagsausgabe käme, weil es freitags sowieso immer ein Loch gebe und ich stattdessen lieber zur Pressekonferenz gehen sollte, die um fünfzehn Uhr im Geißbockheim stattfände, vielleicht mal wieder ein Trainerwechsel, vielleicht auch nur die übliche Kölner Panikmache, auf jeden Fall sollte ich da mal vorbeischauen, denn egal worum es gehe, es müsse auf die erste Seite, schließlich gehe es um den FC. Ich nickte. Es war zwei Minuten vor zwei. Hannes kam um den Schreibtisch herum und suchte unter dem Vorwand, mir bei der Arbeit über die Schulter zu gucken, meine Nähe. Er tat so, als müsste er auf meinem Bildschirm etwas
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