Seitenwechsel
nachlesen und strich mir beim Runterbeugen flüchtig über den Rücken. Das war eine unserer Strategien, wie wir auch zwischendurch im hektischen Redaktionsbetrieb immer wieder winzige Zärtlichkeiten austauschen konnten, ohne dass die anderen etwas mitbekamen. Normalerweise mochte ich diese gestohlenen Momente, aber heute war es mir unangenehm. Zum einen, weil Hannes mit mir quasi auf einen leeren Bildschirm starrte, auf dem bisher nur der Titel stand, und sich vermutlich wunderte, was ich den ganzen Vormittag getan hatte. Zum anderen, weil die Uhr unten rechts gerade von 13:59 auf 14:00 sprang.
»Halbroboter im Hochleistungssport?«, fragte Hannes amüsiert und legte wie aus Versehen seine Hand über meine auf die Maus, als er damit auf dem weißen Blatt herunterscrollte. »Klingt vielversprechend.«
»Ähm, ja … ich dachte, ich wähle einen etwas sciencefictionartigen Einstieg. Das Thema ist sonst irgendwie zu … technisch. Ich … ich wollte gerade loslegen, aber, ähm, das hat dann wohl noch Zeit. Ich mache mich am besten direkt auf den Weg ins Geißbockheim … oder?« Großartig, jetzt fing ich schon bei dem bloßen Gedanken an Tim an zu stottern.
»Jetzt schon?«, fragte Hannes irritiert.
»Na ja, es ist eine Minute nach zwei.«
Hannes grinste: »Seit wann sind Sie denn so pünktlich, Frau Schneider?«
Ich hatte das Gefühl, tiefrot anzulaufen, und wurde in meinen Bedenken bestätigt, dass eine Affäre zwischen Tim und mir niemals gutgehen würde.
»Andererseits«, überlegte Hannes, »vielleicht ergatterst du ja vorher noch ein paar Zitate von den Spielern.«
Hannes lächelte mir ein letztes Mal zu und drückte im Gehen ganz beiläufig meine Hand. Ich schaute ihm nachdenklich nach und überzeugte mich davon, dass ich nur teilweise daran schuld sein würde, wenn ich Tim nun auf dem Parkplatz über den Weg laufen sollte. Ich hatte den klaren Auftrag von oben, das Gebäude augenblicklich zu verlassen. Es war vier nach zwei. Tim würde noch unten warten. Und im Grunde war auch nichts dabei, wenn ich gleich in sein Auto stieg, er mich zum Geißbockheim fuhr und wir unterwegs redeten. Dann konnten wir die Hochzeitsfrage ein für alle Mal klären und ich mich anschließend voll und ganz auf meine Halbroboter konzentrieren. Von einer Affäre konnte keine Rede sein.
Ich bemühte mich, meinen Computer langsam runterzufahren, in Ruhe meine Sachen zusammenzusuchen und Jacke, Schal und Mütze – es war März und immer noch tierisch kalt in Köln – im Stehen und nicht wie sonst im Laufschritt anzuziehen. 14:07. Bis ich unten war, war es sicher schon neun nach. Das sollte reichen, um Tim zu zeigen, dass ich zwar seine Notiz wahrgenommen hatte, an einer Affäre aber nicht interessiert war.
Doch Tims Familienkutsche, für die er nach Kais Geburt schweren Herzens seinen protzigen BMW eingetauscht hatte, bog gerade erst auf den Parkplatz ein, als ich die Tür des Haupteingangs aufstieß. Na prima, jetzt hatte Tim auch noch Verspätung und würde mit Sicherheit denken, ich hätte schon hier unten auf ihn gewartet. Mein moralischer Vorsprung war dahin. Erst recht, als er die Beifahrertür aufmachte und ich mit einem hektischen Blick nach oben einstieg.
Tim begrüßte mich mit einem siegesgewissen »Also hast du meine Nachricht erhalten«, das ich lediglich mit einem säuerlichen Blick quittierte.
Er fuhr vom Parkplatz und musste sich auf den Verkehr konzentrieren, denn die Matschreste des überraschenden Schneefalls von heute Morgen machten den Kölnern zu schaffen. Schnee kannte man in dieser Stadt nur aus Urlaubsprospekten, so dass hier eigentlich jeder das ganze Jahr über mit Sommerreifen fuhr. Außer Tim. Wieder so eine Sache, bei der er sich strikt an die Regeln hielt und trotz Klimawandel und milder Winter jedes Jahr eigenhändig schon im Herbst die Reifen wechselte. Also, wie kam es, dass dieser grundehrliche, regelkonforme Tim sich plötzlich in einen eiskalten Betrüger verwandelte? Die Tatsache, dass Tim vom Verkehr abgelenkt war und wie selbstverständlich ein mir unbekanntes Ziel ansteuerte, erleichterte es mir nicht gerade, dieses Rätsel zu lösen. Ganz zu schweigen von der Hochzeitsfrage, die mir plötzlich zu wichtig erschien, als sie quasi im Vorbeifahren abzuhaken.
»Wo fahren wir hin?«, erkundigte ich mich stattdessen und ärgerte mich augenblicklich über die Frage, die im Grunde doch hätte heißen müssen: Kannst du mich zum Geißbockheim bringen?
»Zu Tina, dachte ich«, antwortete
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