SEK – ein Insiderbericht
natürlich, indem sie durch taktisch richtiges Verhalten den Einflussbereich des Täters nachhaltig begrenzt, dessen Aufmerksamkeit von den Opfern auf die Polizeikräfte lenkt und letztendlich den Täter so schnell wie möglich handlungsunfähig macht. Genau darin aber liegt das Problem.
Eine Gemeinsamkeit aller spektakulären Amokläufe ist die Schnelligkeit, mit der sich das Geschehen entwickelt, und die exorbitant steigende Opferzahl, solange der Täter mehr oder minder ungestört seinem mörderischen Treiben nachgehen kann. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der Amoklauf von Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya innerhalb von 90 Minuten insgesamt 69 Menschen erschossen hat, bevor er endlich durch Angehörige der norwegischen Spezialeinheit Delta festgenommen werden konnte. 90 geschlagene Minuten! Das war Zeit genug, um Breivik zum folgenschwersten Massenmörder seiner Art in der Geschichte werden zu lassen.
Alles, was wir heute über die Charakteristik von Amokläufen wissen, wussten wir zum Zeitpunkt des Geschehens in Columbine noch nicht. Mit unserem Training war meine Einheit sicherlich eine der ersten in der gesamten Republik, die sich überhaupt mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat. Ein von mir aufgrund unserer Trainingserfahrungen entwickeltes System des veränderten taktischen Vorgehens, nicht mehr mit dem Ziel, das Gebäude durch das SEK komplett zu sichern, was viel zu viel Kräfte und Zeit erfordert, sondern mit dem Ziel, mit wenigen Beamten so schnell wie möglich auf allen Ebenen des Gebäudes präsent zu sein. Hierdurch ist die Wahrscheinlichkeit für die Polizei, auf den Täter zu treffen und diesen bekämpfen zu können, deutlich erhöht, und zwar unabhängig davon, in welchem Bereich des Gebäudes dieser seinem mörderischen Treiben nachgeht. Das war und ist aus unserer Sicht der Schlüssel zur polizeilichen Bewältigung einer Amoklage. Denn hierdurch wird in der entscheidenden Anfangsphase mit dem zumeist geringen Personaleinsatz der ersten Minuten die Wahrscheinlichkeit des Aufeinandertreffens von Täter und Polizeikräften nachhaltig verbessert. Doch diese verbesserte Ausgangsposition für die Polizei kann sich nur realisieren, wenn tatsächlich die ersten Beamten, die den Ereignisort erreichen, auch sofort aktiv in das Geschehen eingreifen. Dies sind jedoch meist nicht Beamte von Spezialeinheiten, sondern in aller Regel die Kollegen des Streifendienstes.
Zum Zeitpunkt von Columbine, ohne entsprechende Einsatzlagen in Deutschland, klang ein solcher Vorschlag, die Beamten des Wach- und Wechseldienstes in eine taktische Konzeption zur aktiven Bekämpfung von Amoktätern einzubeziehen, völlig utopisch. Die bisherige Praxis für die Beamten des Streifendienstes bei Vorhandensein von bewaffneten Tätern war immer, den Tatort weiträumig abzusperren und das Eintreffen der Spezialeinheiten abzuwarten. Eine Praxis, die, wie wir gesehen haben, im Falle von Amoktätern absolut nicht ausreichend ist.
Im Jahre 2001 richtete meine Einheit eine größere taktische Übung für Beamte von Spezialeinheiten unseres Landes aus, in der es erstmals um die Bewältigung einer Amoklage ging. Zu diesem Zweck wurde ein ehemaliges Schulgebäude mit schreienden »Opfern«, »Verletzten«, »Toten« und jeder Menge Kunstblut sowie einem durch die Räume laufenden, wild um sich schießenden Täter realitätsnah in Szene gesetzt. Das Ergebnis, welches die nicht auf diese Lage vorbereiteten Kollegen ablieferten, war ernüchternd. Die Bilder glichen in frappierender Weise denen aus Columbine. Dennoch war die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Übung noch nicht allseits verbreitet. So mancher Kollege bezeichnete unsere Lagedarstellung als völlig unrealistisch und in Deutschland nicht vorstellbar und tat das von uns geforderte sofortige und daher weitgehend ungeplante Betreten des Gebäudes in Anwesenheit eines sich unkontrolliert bewegenden, schwer bewaffneten Täters als »unverantwortliches Himmelfahrtskommando« ab.
Doch tatsächlich holte uns die Realität viel schneller ein, als selbst wir es dachten.
Am 26. April 2002 betrat der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt und erschoss im Zuge eines 20-minütigen Amoklaufs insgesamt zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizeibeamten, bevor er sich zum Schluss selbst richtete. Ohne den am Tatort eingesetzten Polizeikräften auch nur den geringsten Vorwurf
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