SEK – ein Insiderbericht
machen zu wollen: Sie waren vollkommen überfordert und weitgehend außerstande, aktiv in das Geschehen in dem Schulgebäude einzugreifen. Daher konnte der Täter sein Tun auch so lange fortführen, bis er selbst zu der Entscheidung kam, dass es genug sei. »Für heute reicht’s«, sagte Steinhäuser kurz vor seinem Selbstmord zu einem Lehrer, der ihm am Ende seines Amoklaufs im Schulgebäude begegnete und den er nicht erschoss.
Das Geschehen in Erfurt entsprach in seinem Ablauf so genau demjenigen, welches wir ein Jahr zuvor im Rahmen unserer Übung veranstaltet hatten, dass mir selbst im Nachhinein ein Schauer über den Rücken lief.
Von diesem Zeitpunkt an genoss die Beschäftigung mit sogenannten Amoklagen bei der Polizei mit einem Mal die notwendige Priorität. Weitere Ausbildungsveranstaltungen folgten, und auch die Forderung, dass die Beamten des Streifendienstes eine entsprechende Ausbildung in der Bekämpfung von Amoktätern erhalten müssten, wurde nicht mehr für illusorisch befunden, sondern in unserem Bundesland nunmehr in einem fortbildungstechnischen Großprojekt in die Tat umgesetzt. Heutzutage muss jeder aktive Polizeibeamte eine entsprechende Fortbildung zum Thema »Amok« durchlaufen.
Ich bin überzeugt, dass meine Einheit hierfür mit die entscheidenden Anstöße gegeben hat.
Ein paar Jahre später. Ich bin zusammen mit allen Kollegen, die heute Frühdienst haben, auf dem Weg zu einem Übungsobjekt, welches sich in einiger Entfernung zu unserer Dienststelle befindet. Für die Durchführung von realistischen Einsatztrainings ist es unerlässlich, dass wir ständig nach neuen und uns baulich nicht bekannten Objekten Ausschau halten. Im Ernstfall kennen wir ja die Gebäude, in die wir vordringen müssen, auch nicht.
Bei unserem »Ausflug« führen wir unser komplettes Einsatzequipment mit. Zum einen benötigen wir es für die Durchführung des Trainings sowieso, zum anderen müssen wir ja auch jederzeit auf einen möglichen Einsatz gefasst sein. Wie so häufig sitze ich mit Lothar, meinem Stellvertreter, gemeinsam im Auto, und wir unterhalten uns gerade über Gott und die Welt, als plötzlich mein Handy klingelt und Hagen, unser Einsatzsachbearbeiter, sich meldet. Hagen, den wir wegen seiner Tätigkeit als Einsatzvermittler und Überbringer von schlechten Nachrichten auch manchmal als »Hiob« bezeichnen, hält sich nicht lange mit der Vorrede auf, sondern kommt gleich zur Sache: »In einer Schule in E. läuft derzeit vermutlich eine Amoklage. Es wurden Schüsse gehört, alles Weitere noch unklar. Die Fliegerstaffel hält für euch eine Maschine bereit, sodass eine Crew im Lufttransport vorausfliegen kann. Der Rest muss mit Fahrzeugen hinterher.«
Ich überlege kurz, wo E. liegt und wie lange eine mögliche Flug- beziehungsweise Fahrzeit wohl dauern könnte. Da die Entfernung zum Einsatzort etwa 170 Kilometer beträgt, ist ein Hubschrauberflug mit einem Vorkommando mit Sicherheit sinnvoll, da die Fahrzeuge in jedem Fall länger brauchen werden. Ich sage zu Hagen: »Alles klar, wir drehen um. Ich fahre mit einer Crew zum Flughafen und fliege, der Rest fährt mit Lothar per Fahrzeug. Ruf mich an, wenn es noch weitere Infos gibt.«
Hagen bestätigt kurz das von mir Gesagte und legt auf.
Lothar, der neben mir das Auto fährt, schaut mich fragend an, und ich sage nur zu ihm: »Amoklage in E., wir teilen uns auf, ich fahre mit 3 Leuten zum Flughafen, wir haben eine Maschine und fliegen vor. Du kommst mit dem Rest per Fahrzeug hinterher …«
Als wir Mitglieder des fliegenden Vorkommandos mit quietschenden Reifen bei der Polizeifliegerstaffel ankommen, die auf einem abgetrennten Teil des Flughafens stationiert ist, wird gerade der Hubschrauber aus einer Halle geschoben und startklar gemacht. Bei der Polizei sind Hubschrauber des Modells BK 117 im Einsatz, die theoretisch Platz für elf Personen (inklusive Besatzung) bieten. Wenn man sich jedoch die kleine Zelle des Hubschraubers anschaut, so fragt man sich sofort, wo da wohl neun Passagiere untergebracht werden sollen, ganz zu schweigen davon, wenn es sich bei den Passagieren um schwer bepackte und bewaffnete SEK-Beamte handelt, die mit Sicherheit das für einen Passagier berechnete Durchschnittsgewicht um das Doppelte übertreffen. Genau aus diesem Grund habe ich die Größe unseres Teams auch auf vier Leute begrenzt, das sind neben mir noch Ossi, Michael und Hannes. Das Letzte, was ich jetzt will, ist, dass wir wegen der Überschreitung des
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