Sekunde der Wahrheit
solchen Fällen tut, aber es klang ihr banal in den Ohren. »Kann ich dir helfen?«
Er reckte das Kinn vor, nun blaß geworden, und seine grauen Augen schauten direkt in ihre. »Du kannst mich küssen«, sagte er.
Sie küßte ihn. Seine Lippen fühlten sich kalt an, aber seine Umarmung war warm und zärtlich.
Als er die Tür zu Andrew Camerons Suite öffnete, konnte Blake Raynolds nur an eines denken: seine geschwollene, entzündete Zehe. Der Schmerz kam in Wellen und wurde von Medikamenten nur wenig betäubt. Er hatte gehört, daß Pferde unter ähnlichen Beschwerden litten, und wollte sich bei Andrew nach einem guten Mittel erkundigen.
Aber als er dessen blasses und bestürztes Gesicht sah, schien ihm der Zeitpunkt für eine solche Frage verfehlt. Er stelzte mit seinem Stock zu einem Sessel, als Andrew ohne Begrüßung fragte: »Was hast du über Marylou Wolforth herausbekommen?«
»Verdammt wenig. Wohnt, wenn sie hier ist, in einem alten Herrenhaus im Südosten der Stadt, eine Haushälterin versorgt in ihrer Abwesenheit das Haus, aber telefonisch konnte ich niemanden erreichen.« Er ließ sich vorsichtig in den Sessel sinken und streckte das schmerzende Bein aus. »Sie ist im Augenblick in Europa und hat mit Rennen sowieso nichts am Hut. Sie hat nie geheiratet und verbringt viel Zeit auf Reisen. Also, das war alles. Warum?«
»Vielleicht kann Clay Chalmers ein bißchen mehr darüber sagen. Er hat vor einer Minute etwa angerufen, und ich habe ihn heraufgebeten.«
Schon wieder Clay Chalmers. Ein neuer Verdacht? »Ich dachte, du wärst mehr oder weniger der Ansicht, daß der junge Chalmers nichts mit Starbrights Verschwinden zu tun hatte. Und dann wolltest du doch die Sache fallenlassen, nachdem du das Pferd wiederhattest.«
»Stimmt. Auf der anderen Seite scheint mir, daß er mehr weiß, als er rausgelassen hat.«
»Aber wenn die Starbright-Sache beendet ist, warum hast du mich dann herzitiert, Andrew?«
»Jetzt dreht es sich um Kimberley.«
Das hatte sich Raynolds schon fast gedacht. »Na ja, solange wir warten und da es schon nach Mittag ist, könntest du mir vielleicht einen Drink anbieten?«
»Gern.« Andrew ging zur Bar. »Dann habe ich wenigstens etwas zu tun. Aber ich sollte dich warnen: Wir werden klare Köpfe brauchen!«
»Verstanden. Aber wie man so sagt: Ein Fieber muß man aushungern, ein Magengeschwür richtig füttern und Gicht mit Bourbon begießen.«
»Glaub nicht, daß ich nicht wüsste, was du durchmachst, Blake …«
»Daran habe ich weniger gedacht …«
Der Türsummer ertönte, und Andrew ging in den Vorraum. »Ich wollte am Telefon nicht darüber sprechen«, erklärte er Clay Chalmers anstelle einer Begrüßung.
Als beide wieder im Zimmer waren, sagte Blake: »Tag, Mr. Chalmers. Ich habe Ihnen noch gar nicht zu Ihrem Erfolg mit Starbright gratuliert. Anscheinend gewinnt man immer, wenn man mit den niedrigsten Instinkten der Menschen rechnet, was?«
»Sie wollten mich sehen«, konstatierte Andrew Cameron unvermittelt und an Clay gewandt.
Clay nickte Blake zu und sagte dann: »Ich wollte gern wissen, wo Kimberley stecken kann.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Andrew. »Das war einer der Gründe, warum ich mit Ihnen sprechen wollte. Waren Sie heute nacht bei ihr?«
Der junge Mann warf Blake einen Seitenblick zu. Der Anwalt hob eine Hand: »Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Ich habe schon davon gehört, daß Männer und Frauen gelegentlich zusammen schlafen. Und ich bewahre über größere Schandtaten Stillschweigen.«
Clay Chalmers baute sich vor Andrew auf. »Nein, das war ich nicht. Gestern abend war sie in einer seltsamen Laune, und ich wußte nicht recht, was ich anfangen sollte.«
Andrew nickte. »Sie hat zuviel gegessen und getrunken, hatte Platzangst in engen Räumen und wurde vielleicht hysterisch und hat sich gegen Sie gewandt oder Sie möglicherweise sogar angegriffen.« Zum ersten Mal betrachtete Andrew den jungen Mann und sah die Kratzspuren in seinem Gesicht. »Und dann ist sie fest eingeschlafen. Sie hätten sie wahrscheinlich nicht einmal mit einem Kanonen schlag wecken können.«
Clay nickte, und die Sache verblüffte ihn immer mehr.»Aber sie ist jetzt nicht in ihrem Zimmer.«
»Ich weiß.«
»Jason hat sie noch vor einer Weile an der Rennbahn gesehen. Machen Sie sich Sorgen?«
»Ich mache mir oft Sorgen«, sagte Andrew, während er durch das Zimmer ging, um seine Gedanken zu ordnen. »Kimberley bekam gestern einen seltsamen Telefonanruf. Hat sie
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