Sekunde der Wahrheit
er sich auf der Liege ausgestreckt und den Geräuschen der Stallungen gelauscht – Stimmen, Wiehern, Schnauben, entfernt Stampfen, leise Radiomusik; das war seine Welt. Mit einer Vision von Kimberley und ihren Widersprüchlichkeiten war er eingeschlafen. War sie krank? Das war der letzte Gedanke, und auch der erste, als er am Morgen die Augen aufschlug: Konnte es sein, daß diese seltsamen Ausbrüche ein Zeichen für eine ernsthafte Krankheit waren?
Er parkte den Lieferwagen neben dem Krankenhaus, zögerte aber auszusteigen. Nicht, weil er Bernie nicht sehen wollte, sondern weil ihm Kimberley nicht aus dem Kopf ging. Er war beruhigt, daß ein Mann wie Peter Cowley ein Auge auf das Mädchen hatte, aber es beunruhigte ihn auch, daß Andrew Cameron sich veranlasst gefühlt hatte, einen Leibwächter zu engagieren, und daß noch immer mit Owen gerechnet werden mußte. Aber vermutlich konnte er davon ausgehen, daß Owen seine Munition verschossen hatte, sich damit abfand und nicht weitergehen wollte. Doch irgendwie konnte er nicht recht daran glauben.
Auf dem Weg durch den Warteraum – heute saß keine Mrs. Brigid Tyrone da – dachte er an das Frühstück in der Rennbahnkantine, zu dem ihn Jason Arnold eingeladen hatte. Er hatte Pepe Benitez' Agent kennen gelernt, einen erstklassigen Mann, klein und dürr, mit einem entwaffnenden Lächeln, der nur Spitzenjockeys vertrat. »Mit uns auf Starbright. Ich bewundere Ihren Mut«, hatte er ihn aufgezogen, »daß Sie mit uns auf Starbright einen Bock wie Hotspur überhaupt starten.« Clay amüsierte sich darüber, wie sehr sich der Mann mit seinem Jockey identifizierte. »Ich höre, Sie haben etwas gegen Hunde, Mr. Chalmers.« Pfeifend und mit der ›Daily Racing Form‹ unter dem Arm war er gegangen.
»Junge«, hatte Jason Arnold gesagt, »Sie sehen aus, als hätten Sie mit einer Wildkatze und nicht mit einem Hund gekämpft.«
»Tiere haben anscheinend was gegen mich, nur Pferde nicht.«
Jason hatte genickt – hatte er den richtigen Schluß gezogen? Bei diesem Mann wußte man es nie genau. »An Starbrights Beinen ist keine Infektion aufgetreten«, berichtete er, während er Kaffee trank und Clay studierte. »Die aufgescheuerten Stellen heilen, und er lahmt auch nicht. Ich glaube, wir haben das Schlimmste hinter uns. Aber die Geschichte hat ihn doch beeinträchtigt, und ich würde … ach, übrigens, Miß Kimberley war vor einer Weile hier.«
Kimberley? Während Starbrights Morgenarbeit?
»Clay, das Mädchen macht mir Sorgen. Sie flehte mich an, ich müßte ihr versprechen, daß das Pferd gewinnt. Das wollte sie unbedingt von mir hören, aber das kann ich nicht versprechen. Sie ist mit dem Tier richtig besessen. Ach, das hab' ich schon erlebt, besonders bei Frauen, aber ich kriege immer eine Gänsehaut. Bei ihr ist es so verdammt … intensiv.«
Clay sagte nichts. Er hatte so etwas bisher nicht erlebt, jedenfalls nicht so extrem.
»Clay, ich werde Ihnen was sagen. Ich mag das Mädchen. Ich kenne sie von klein auf.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Aber ich mag auch Andrew Cameron. Manchmal kann ich nicht mit ansehen, was sie ihm antut.«
Überrascht über soviel Offenheit wußte Clay zuerst nicht, was er sagen sollte. Warum erzählte Jason Arnold ihm das? Zu diesem Zeitpunkt? Dann fragte er einfach.
»Junge, ich werde es Ihnen sagen. Das Beste, was ihr passieren könnte, und euch beiden, wäre, daß Sie sie nach dem Derby, egal, ob Andrew davon weiß oder nicht, und gleichgültig, wie das Derby ausgegangen ist, in Ihren Lieferwagen sperren und mit ihr abhauen. Ganz gleich, wohin.«
Nach so vielen vehementen Worten schaute er beschämt drein und widmete sich wieder seinem Essen. Und er aß auch weiter, als Clay schließlich sagte: »Das ist der Grund, weshalb ich hergekommen bin, Jason.«
Der ältere Mann knurrte: »Das erleichtert mich. Ich wünsche euch viel Glück.«
Als Clay in Bernies Zimmer trat, fand er sein Bett leer vor.
Der andere Patient, der ein Bein im Streckverband hatte, wußte Bescheid: »Er hat die Nachrichtenschau über das Derby gehört, und danach wollte er jemand die Neuigkeiten berichten. Ich verstehe sowieso nichts davon.«
Clay bedankte sich und faßte einen Entschluß. »Können Sie ihm etwas ausrichten? Von Clay. Sagen Sie ihm: Achthundert Meter in 47 Sekunden. Können Sie das behalten?«
»Immer das Chinesisch. Aber ich hab's mir eingeprägt. Sie können sich darauf verlassen, daß ich es ausrichte.«
Als er auf den
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