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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hayes Joseph
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außer gelegentlichen Informationen in ›Form‹ und ›Classic‹ und anderen Rennsport-Zeitschriften habe ich von meinem Bruder nichts gehört. Ich hab ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen.«
    »Das sind genau die engen Familienbande, die das Rückgrat der Nation bilden.« Er seufzte. »Mit so etwas kann ich meine Zuhörer nicht rühren. Aber dieser Fireaway, den Ihr Bruder trainiert, hat an der Westküste eine eindrucksvolle Erfolgslatte. Meiner fachmännischen und leicht betrunkenen Ansicht nach ist das Derby noch absolut offen.«
    Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Am anderen Ende des Raums war ein betörendes Geschöpf aufgetaucht, Mrs. Brigid Tyrone, eine Frau von gälischer Schönheit und königlicher Haltung, hochgewachsen, wohlproportioniert, mit blitzblauen Augen und einer tizianroten Mähne. Sie trug ein smaragdgrünes Gewand, zur Grünen Insel passend, von der sie und ihr Vollblüter Irish Thrall stammten. Ein lebhaftes junges Mädchen, das naiv-neugierig wirkte und zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, begleitete sie. Es hatte lange, schwarze Haare und einen zierlichen Körper wie ein Püppchen. Während der Maître d'Hôtel ihr den Stuhl zurechtschob, stand Andrew Cameron hinter Mrs. Tyrones Stuhl, würdevoll und wie immer etwas distanziert. Dann nahm er mit sparsamen, eleganten Bewegungen auf seinem Stuhl Platz. Was Wyatt schmerzlich daran erinnerte, daß der Mann ungefähr in seinem Alter war. Und keineswegs einen Bierbauch hatte wie er. Aber wen kümmerte schon sein Aussehen?
    »Wie hat es Andrew Cameron so schnell geschafft, sich an die Witwe zu heften, der Irish Thrall gehört?« Aus der Frage klang widerwillige Anerkennung. Doch dann entdeckte er in Clays Augen ein seltsames Flackern, das jedoch sogleich völliger Ausdruckslosigkeit wich. Er reckte den Kopf hoch, drehte ihn aber nicht um.
    Da fiel Wyatt wieder ein, daß Clay Chalmers ja vor Jahren für das Blue-Ridge-Gestüt gearbeitet hatte. Ganz Journalist wieder, obgleich die Drinks und die Müdigkeit ihn zu lähmen begannen, nahm er sich vor, der Sache nachzugehen.
    Was war mit dem Flugzeug los? Kurz zuvor hatten die beiden Motoren der Piper Twin Comanche gleichmäßig durch die Nacht gedröhnt, über die Bergkette, die gespenstisch bleich und zerklüftet im Mondlicht unter ihnen lag, gelegentlich umspielt von Wolkenfetzen. Ihr Mann wollte auf dem Rücksitz ein Nickerchen machen und hatte zuvor seinem Piloten und Trainer sowie ihr dafür gedankt, daß sie ihn überredet hatten, zum Derby mitzukommen. Dann war er wohl eingeschlafen. Christine Rosser verlor jedes Zeitgefühl, wenn sie trank. Vielleicht waren nur Minuten vergangen. Im Sitz neben dem Piloten spürte sie seltsame Vibrationen. Als sie sich noch einen Drink aus der Taschenflasche eingießen wollte, verschüttete sie den Gin, weil das Flugzeug plötzlich schlingerte.
    Es war langsamer geworden. Das war ihr zuvor gar nicht aufgefallen. Sie hatte sich einem verschwommenen Reigen von Bildern hingegeben, Bällen und Einladungen, Frauen in Festroben und Männer in Dinner-Jacketts, wie sie sie aus ihrer Jugend kannte und die ihr nun siebzehn Jahre lang vorenthalten worden waren. Verbannt in der Isolation von Ranchgebäuden, Leder, Gras und Kakteen, deren öde Monotonie sie nun Meile um Meile hinter sich ließ.
    Das Flugzeug verlor noch weiter an Geschwindigkeit. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Piloten. Der hochgewachsene, drahtige Mann mit dem rötlichen Bart umklammerte den Steuerknüppel, schien mit der Maschine zu kämpfen und fluchte laut vor sich hin. Ein Ruck lief durch die Flügel, der Schwanz schlug aus, und dann stotterten die Motoren. Sie hörte einen rätselhaften Ton – ein durchdringendes Piepsen über ihrem Kopf – und erkannte, was es war, obgleich sie es noch nie vernommen hatte: das Ausfallsignal. Das ganze Flugzeug bockte wie wild, obgleich an den Scheiben kein Regen zu erkennen war. Sie stieß einen Schrei aus, suchte hastig die Gurte und befestigte sie um ihren Unterkörper. Der Mann auf dem Rücksitz saß angeschnallt steif da, und seine blassen Augen waren vor Angst glasig unter dem breitrandigen Stetsonhut.
    Dann ruckte das Flugzeug nach vorn, und die Motoren donnerten. Ihr riß es den Kopf in den Nacken, und der Schmerz durchfuhr sie bis in die Zehen. Unvermittelt setzten die Motoren aus, und sie schrie dem Mann auf dem Rücksitz zu, seine Pille zu nehmen, unter die Zunge, aber natürlich war es hoffnungslos, er begriff sie

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