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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hayes Joseph
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seinem fünften Geburtstag an Lungenentzündung gestorben war; ihr eigener Vater, der bereits seit einem halben Jahrhundert tot war; die Tage und Nächte in Brookfield Farm, die erfüllt waren mit Partys und Geselligkeit und Lachen. All dies ging Rachel Stoddard durch den Kopf, so daß sie nicht recht wußte, ob sie träumte oder wachte.
    Als Ancient Mariner, Eugenes Pferd, nach dem Brand in der Derbystallung eingeschläfert werden mußte, war ein Teil Leben von ihr gewichen.
    Als sie so schlaflos in ihrem Bett in der Dämmerung lag und den Regen draußen niederprasseln hörte, spürte sie so richtig die Last ihres Alters, ihrer dreiundachtzig Jahre, die hinter ihr lagen. Es waren erfüllte Jahre, gute Jahre … aber unwiderruflich vorbei. Alles war vorüber, war Teil der Vergangenheit.
    Ihre Miß Mariah würde morgen im Kentucky Oaks laufen. Morgen? Wie spät war es? Die Zeit raste dahin wie ihre Erinnerungen. War noch Donnerstag nacht oder bereits Freitag morgen? Aber spielte es wirklich eine Rolle? Bald würde sie aufstehen und sich anziehen müssen und ihre Maske anlegen – die der scharfzüngigen, unberechenbaren, schroffen und weisen, respektierten und geschätzten Matrone, der großen alten Dame des Rennsports. Wie lange konnte sie sich noch aufraffen, schauspielern, leben?
    Ich komme, Eugene.
    Sie wußte es, ihre Uhr war abgelaufen. Alles andere war eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, ein Akt zur Belustigung ihrer Umwelt. Es war für sie Zeit, und tief in ihrem Innersten hatte sie das bereits akzeptiert, vielleicht schon seit damals, als Eugene sie für immer verlassen hatte. Bald, Eugene, sind wir wieder vereint. So Gott will.
    »Es ist ein privater Club«, erklärte Andrew. »Ich bin gastweise Mitglied, wenn ich in der Stadt bin.«
    Nur wenige Sessel waren zu dieser Morgenstunde in dem weitläufigen Raum besetzt. Die Wände waren mit poliertem Mahagoni verkleidet, und die tiefen Ledersessel und Couchen bildeten Sitzgruppen für zwei oder mehr Personen, in gebührendem Abstand voneinander, um die Privatatmosphäre zu wahren. Ein solcher Club könnte auf Clay einschüchternd wirken, dachte Andrew und wollte ihm eine etwaige Befangenheit nehmen.
    »Wollen wir uns hierher setzen? Mir fiel kein ungestörterer Ort ein, und das Hotelzimmer habe ich recht satt. Kaffee? Tee? Cognac?«
    »Nein, danke. Ich will nur Informationen.«
    »Damit kann ich auch nicht in befriedigender Weise dienen.« Andrew studierte Clay diskret. Mit seiner braunen Tweedjacke und dem Rollkragenpullover war er der einzige Mann im Raum ohne Krawatte, aber es schien ihn nicht zu stören, und die Umgebung nahm ihm kein bißchen seiner Unbefangenheit. Ihm waren an seinem Wesen in den letzten Tagen einige Veränderungen aufgefallen, und vielleicht gehörte dieses erhöhte Maß an Selbstsicherheit auch dazu. »Sie haben wahrscheinlich tausend Fragen.«
    »Nur ein paar.«
    Die sich überstürzenden Ereignisse der letzten Tage hatten auch bei Andrew zu Veränderungen geführt, und erkannte sich eigentlich selbst nicht wieder. Als er vor kurzem die schlafende Brigid verlassen hatte, wußte er, daß sie ihn unterstützte. Aber in alles hatte er sie nicht eingeweiht – warum eigentlich? –, und nach dem Derby würde sie nach New York fahren und sich dort nach Irland einschiffen. Er hatte das ungute Gefühl, daß er auch hier einer Krise zustrebte, die er zugleich fürchtete und herbeisehnte. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren war er plötzlich in eine Beziehung geschliddert und in einen Strudel von Ereignissen gezogen worden, die widerstreitende Gefühle in ihm auslösten und die er nicht ganz überblickte.
    »Sie wollten gestern wissen, wie lange sie möglicherweise wegbleiben wird …«
    »Und Sie nannten eine Zeitspanne von einer Stunde bis zu zehn Tagen. Aber wohin begibt sie sich?«
    »Ich weiß es nicht.« Andrew schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Clay, ich weiß es nicht, weil sie es nicht weiß.«
    »Das ist schwer zu glauben.«
    »Stimmt. Ich habe es zuerst auch nicht wahrhaben wollen und dachte, daß sie ihre Spielchen mit mir triebe – daß ich es einfach nicht wissen sollte. Aber als sie sich weigerte, einen Psychiater aufzusuchen, konsultierte ich einen. Ich beschrieb die Situation, und er erklärte mir zweierlei: daß psychische Amnesie keine Seltenheit sei, aber daß sie ein Symptom für tiefer liegende seelische Probleme sei und dringend der Behandlung bedürfe. Darauf wollte sie sich natürlich nicht einlassen. So, wie es

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